Es gibt so Tage, da weiß man noch Jahrzehnte später genau, wie sie abgelaufen sind. Für die Familie Linnemann aus Göttingen, einem Ortsteil von Wadersloh im Kreis Warendorf, ist der 20. Mai 2022 ein solcher Tag. Am Morgen hatte Senior Theo Linnemann wie gewohnt die 14 Mutterkühe und ihre Kälber versorgt. Am Abend dieses Freitags im Frühling stand er vor den Trümmern des Hofes.
Die Dachpfannen flogen
Dass sich etwas zusammenbrauen könnte, war den Linnemanns bewusst. Es hatte Wetterwarnungen gegeben und als beim Kaffeetrinken vor der Haustür die ersten Regentropfen fielen, zog die Familie schnell nach drinnen um. Gerade noch rechtzeitig. „Die Haustür habe ich nicht mehr zubekommen, da flogen schon die ersten Dachpfannen durch die Scheiben“, erinnert sich Theo Linnemann. „In 30 Sekunden war alles weg.“
Der Tornado streifte zwei Drittel der Dachpfannen vom Wohnhaus und schlug dann auf der Hoffläche mit voller Wucht zu. Die kleine Scheune gegenüber vom Hauseingang wurde komplett zerstört, die Maschinenhalle und der Kuhstall standen innerhalb kürzester Zeit ohne Dach da. Überall nur noch geborstenes Holz, demolierte Autos, verwirrte Kühe.
Zurück ins Chaos
Andrea Linnemann hatte von all dem zunächst nichts mitbekommen. Die Krankenschwester, heute 41 Jahre alt, war unterwegs zu einer Verabredung. Die halbe Strecke nach Halle hatte sie geschafft, da rief ihre Mutter an: „Andrea, du musst sofort wiederkommen, hier ist alles weg.“ Auf den Weg gab sie der Tochter auch noch die beruhigende Nachricht, dass niemandem etwas passiert sei. Als Andrea Linnemann heimkam, stand sie erst vor einer Absperrung der Feuerwehr und dann vor den Resten des Hofes.
Riesige Hilfsbereitschaft
Dem ersten Schock folgte beherztes Anpacken. Ziemlich trocken erzählt die Familie heute von den aufwühlenden Tagen nach dem Unglück. „Wir haben riesige Hilfsbereitschaft erfahren“, sagt Andrea Linnemann, die mit ihrem Partner Andreas Menne und den drei gemeinsamen Kindern im Obergeschoss des Elternhauses lebt.
Feuerwehrleute und Nachbarn halfen, die größten Trümmer beiseite zu räumen und das Dach des Wohnhauses abzudichten. Ein Dachdecker, ein Elektriker und ein Vertreter der Versicherung waren noch am selben Tag auf dem Hof. Die Kinder – die Zwillinge Jana und Luca sind acht, ihre große Schwester Theresa ist zehn Jahre alt – konnten bei Freunden übernachten.
Drei Wochen Schutt räumen
In den ersten Tagen waren immer bis zu 30 Helfer auf dem Hof. Die einen kamen mit schwerem Gerät, andere brachten zur Stärkung eine große Schüssel Herrencreme. Nach rund drei Wochen war der Schutt weggeräumt. Der alte Drescher, ein Claas Matador Gigant, steht bis heute in der Nachbarschaft unter, der Kornwagen noch demoliert auf dem Hof. Die Linnemanns haben ihren 9 ha großen Nebenerwerbsbetrieb fast ausschließlich mit eigenen Maschinen bewirtschaftet.
Zuerst das Wohnhaus
Schnell war klar, dass das Wohnhaus nicht einsturzgefährdet ist. Innerhalb von sechs Wochen war es repariert. Der Dachdecker hatte geistesgegenwärtig direkt die nötigen Pfannen bestellt. Die Haustür, die Jalousien und einige Fenster wurden erneuert. Bei einer Spendenaktion für die Familie kamen 3650 € zusammen. Von dem Geld bekamen die Kinder unter anderem Ersatz für ihre zerstörten Fahrräder und ein neues Trampolin.
Für die nötigen Sicherungsmaßnahmen zahlte die Versicherung sofort. Seit November weiß die Familie auch, wie viel Geld ihr für den Wiederaufbau zur Verfügung stehen wird. Mit dieser Summe planen die Linnemanns nun. Mit Unterstützung eines Architekten aus dem Nachbarort wollen sie zeitnah den Bauantrag beim Kreis Warendorf stellen.
Das sagt das Baurecht
Baugenehmigungen im Außenbereich sind mitunter eine knifflige Angelegenheit. Für Gebäude, die durch Brand, Naturereignisse oder andere außergewöhnliche Ereignisse zerstört worden sind, gibt es Sonderregelungen. Das erklärt Sonja Friedemann, Juristin beim Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverband (WLV). Nach § 35 Abs. 4 Nr. 3 des Baugesetzbuches können solche Gebäude als gleichartige Gebäude an gleicher Stelle wiederaufgebaut bzw. neugebaut werden. Voraussetzung ist, dass sie einst zulässigerweise errichtet worden sind. Übrigens: Ist ein Gebäude im Außenbereich wegen fehlender Pflege oder anderer Missstände und Mängel abgängig, gilt der genannte Passus nicht. Dann ist in der Regel nur der Ersatz eines selbst genutzten Wohnhauses möglich, ebenfalls an gleicher Stelle und in gleichartiger Form.
Im Stall wird es eng
„Natürlich ärgert uns, dass es gerade nicht vorangeht“, sagt Andreas Mutter Barbara. Denn langsam drängt die Zeit: Für die Mutterkühe wird es im Tretmiststall eng – spätestens wenn demnächst die Kälber geboren werden. Im vergangenen Herbst hat die Familie alle Jungtiere verkauft, weil es sonst über den Winter zu eng geworden wäre. Früher standen fünf der Kühe mit ihren Kälbern in der Scheune, von der nur noch Fundamente und Teile der Bodenplatte zu sehen sind. Auch Zuchtbulle Thilo musste aus Platzgründen weichen.
Dach gesucht
Die Maschinenhalle konnten die Linnemanns neu eindecken, aber das Satteldach des 1964 gebauten Kuhstalls war nicht mehr zu retten. Das Gebäude hat sich insgesamt so verzogen, dass nur ein Neubau infrage kommt. Die Geschossdecke ist provisorisch abgedichtet.
Das Dach fehlt aber nicht nur, weil der Stall jetzt schlechter belüftet ist und als Strohlager ausfällt. Eine 17 Jahre alte PV-Anlage mit 29 kWp war dort installiert. Andere geeignete Dachflächen fehlen und die Ausfallentschädigung gibt es nur für ein Jahr.
Verlorene Erinnerungsstücke
Mit dem Tornado sind neben den Gebäuden auch viele Erinnerungsstücke auf dem Dachboden verloren gegangen. Dennoch schauen die Linnemanns mit Mut und Optimismus in die Zukunft. Andrea Linnemann: „Wir sind alle gesund geblieben. Alles andere ist ersetzbar.“
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