Zu jung für das Seniorenheim

Werden junge Erwachsene pflegebedürftig, stellen sie andere Ansprüche an eine vollstationäre Ein­richtung als Senioren.

Hermann S. hat Glück im Unglück. Ein Leben in einem Pflegeheim für Senioren ist ihm als Mitfünfziger erspart geblieben.

Er hat einen der begehrten Plätze in einer Wohn- und Pflegegemeinschaft in Münster erhalten. Die Wohngruppe gehört zu einer Pflegeeinrichtung der Alexianer Münster. Hier wohnen und leben seit 2001 pflegebedürftige Menschen im Alter zwischen 18 und 60 Jahren.

Wer einmal hier einzieht, der darf auch bleiben, wenn er älter wird. „Unsere 18 Bewohner sind derzeit zwischen 27 und 70 Jahren“, berichtet die Leiterin des Wohnbereichs. Zielgruppe der Einrichtung sind ausschließlich pflegebedürftige junge Menschen, die nach einem Krankenhausaufenthalt, nach einem Unfall bzw. chronischen Erkrankungen der stationären Pflege bedürfen oder bei denen eine häusliche Versorgung durch den Verlauf der Erkrankung nicht mehr gewährleistet ist. Die meisten Bewohner sind schwer bis schwerst körperlich pflegebedürftig.

Die Krankheitsbilder sind sehr unterschiedlich. „Einige Bewohner haben eine Schädel-Hirn-Verletzung, eine Hirnblutung oder eine Querschnittslähmung erlitten. Andere sind an Multipler Sklerose erkrankt oder haben andere neurologisch bedingte Ausfälle“, informiert sie. Viele von ihnen sind mitten aus dem Erwerbsleben gerissen worden.

Schlaganfall mit Anfang 50

So auch Hermann S. aus Warendorf. Mit 51 Jahren erleidet der Elektriker einen schweren Schlaganfall. Nach sechs Monaten, die er in Kliniken und Einrichtungen der Rehabilitation verbringt, klappt es mit dem Essen und Sprechen schon besser. Aber eine halbseitige Lähmung der linken Körperhälfte bleibt und er ist weiterhin ein schwerer Pflegefall.
Zurück ins Erwerbsleben kann er nicht. Und zurück auf seinen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb mit Pensionspferdehaltung im Kreis Warendorf kann er ebenfalls nicht. Die beiden Kinder sind außer Haus, seine geschiedene Frau ist verstorben. Wohin also? Seine ältere Schwester aus dem Ort nimmt ihn zunächst für drei Jahre bei sich auf. Als er eines Nachts fällt und ins Krankenhaus muss, steht fest, dass er nicht zurück ins häusliche Umfeld kann. Die Situation sei für seine ältere Schwester sehr anstrengend gewesen: „Meine Schwester ging damals echt auf dem Zahnfleisch.“

Erfahrung aus Pflegeheim

Auf der Suche?
Träger von Wohn- und Pflegeheimen sind in der Regel Wohlfahrtsverbände sowie deren Mitgliedsvereine und Kommunen. Adressen sind zu finden beim Ministerium für Integration .
Weitere Ansprechpartner sind die Landschaftsverbände (www.lwl.org ) und die zuständigen Behörden vor Ort.

Nach dem Klinikaufenthalt wird Hermann S. zur Kurzzeitpflege in einem Pflegeheim für Senioren untergebracht. Eine gute Erinnerung an den Aufenthalt hat er nicht. „Zur Toilette wurde ich einmal morgens und einmal abends begleitet“, berichtet er. „Habe ich zwischendurch einmal geklingelt, kam keiner. Es hieß dann, ich hätte ja eine Vorlage um.“

Das Pflegepersonal sei oft unterbesetzt und unfreundlich gewesen. Auch fühlte sich der damals 55-Jährige im Umfeld von hochbetagten und demenziell erkrankten Menschen fehlplatziert. Leider ist dies für viele der bundesweit etwa 400.000 pflegebedürftigen Menschen unter 60 Jahren, die in vollstationären Einrichtungen untergebracht sind, die Regel.

Mangels spezieller Angebote für junge Pflegebedürftige im Erwachsenenalter landen die meisten von ihnen in Pflegeeinrichtungen für Senioren.

Individueller betreut

Nur wenige der Altenpflegeheime bieten wie das Haus in Münster getrennte Bereiche in Form von „Junge-Pflege-WGs“ an. Jeder Bewohner hier hat ein eigenes Zimmer mit Bad, das er individuell einrichten und gestalten kann. Ein höherer Pflege- und Betreuungsschlüssel ermöglicht eine individuellere Versorgung und Betreuung der Bewohner im Pflegealltag.

Es werden Therapien wie Logopädie, Ergo- und Physiotherapie angeboten, die darauf abzielen, verloren gegangene Fähigkeiten wiederzuerlangen. Das macht eine Unterbringung auch wesentlich teurer als in einem Seniorenpflegeheim. Bei Pflegegrad III ergibt sich beispielsweise eine Summe von etwa 4730 €.

Ziel ist es, den jungen Menschen ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und sie weitgehend am sozialen Leben teilhaben zu lassen. „Drei unserer Bewohner arbeiten sogar tagsüber in den Alexianer-Werkstätten“, berichtet die Leiterin. Einmal habe sich ein Bewohner sogar so weit erholt, dass er das St. Oskar verlassen konnte. Hermann S. möchte ebenfalls wieder mobiler werden. Er nutzt fleißig den Handlauf im Flur, um daran vor- und rückwärts das Gehen zu üben. „Ich würde gerne wieder am Gehstock gehen können“, sagt er.

„Junge Bewohner wollen, so weit es geht, ein normales Leben führen und daran teilhaben“, sagt die Leiterin. Shoppen, ins Kino oder in die Kneipe gehen, ein Konzert oder Fußballspiel besuchen, Karten spielen, Haare färben, eine Gesichtsmaske ausprobieren, Beinhaare epilieren oder Nagel maniküren – das seien normale Interessen vieler Bewohner hier. Vieles davon können sie nicht selbst ausführen. „Wir verstehen uns als Assistenten, die ihnen oft Arme und Beinen ersetzen“, erklärt sie.

Interessen berücksichtigen

Nicht nur die Ansprüche an Körperpflege und Freizeitangeboten sind andere als die von alten Menschen. Auch die Schlafgewohnheiten sind andere. Denen kommt man im St. Oskar nach. Feste Schlafens- und Aufstehzeiten gibt es nicht. Man versuche individuelle Lösungen für Frühaufsteher und Langschläfer zu finden. Zu den Mahlzeiten werde die Wohngemeinschaft zwar über die Hauptküche der Alexianer vorsorgt. Dennoch könne auf individuelle Vorlieben Rücksicht genommen werden. Wer möchte, kann auch in der Kochgruppe mitmachen. Dann wird in der geräumigen Wohnküche selbst gekocht.

Hermann S. beteiligt sich daran gerne. Vor allem aber, weil er auf seinem dreirädrigen Elektroliegerad dafür so manchen Einkauf im Ort erledigen kann. „Damit komme ich bei gutem Wetter fast überall hin“, erklärt der 58-Jährige und freut sich bereits auf die ersten warmen Frühlingstage. Dann erkundet er auf seinem Spezialrad die Umgebung, besucht seine Schwester und alte Bekannte im Umkreis und nimmt, so gut es geht, wieder Teil am normalen ­Leben. Gerlinde Lütke Hockenbeck