Zu Hause bleiben statt ins Wohnheim – das wünschen sich die meisten Menschen, wenn sie pflegebedürftig sind. Auch politisch ist das so gewollt. Doch familiäre Strukturen ändern sich. Angehörige sind immer weniger in der Lage, die Versorgung zu übernehmen. Pflegebedürftige Menschen sind dann meist abhängig von der Versorgung durch ambulante Pflegedienste.
Doch in den Pflege- und Gesundheitsberufen herrscht Fachkräftemangel: Rund 24 000 Pflegefachkräfte fehlen allein in NRW. Tendenz steigend. Hinzu kommt: Die Zahl der Pflegebedürftigen in NRW wird bis 2030 auf mehr als 1,34 Mio. steigen, prognostiziert die Barmer in ihrem aktuellen Pflegereport. Der Bedarf an ambulanter Pflegedienstleistung übersteigt vielerorts schon jetzt das Angebot. Für Menschen, die im Außenbereich von Gemeinden leben, kann ihr Wohnsitz zu einem zusätzlichen Problem werden.
Kein Pflegedienst in Sicht
Das musste auch Stephanie Lütke Wöstmann aus Rinkerode, einem Ortsteil von Drensteinfurt im Kreis Warendorf, erfahren. Als sie sich Ende 2019 um einen ambulanten Pflegedienst für ihren mittlerweile verstorbenen Schwiegervater bemühte, konnte sie zunächst keinen finden. „Nach einem Schlaganfall erhielt mein Schwiegervater den Pflegegrad 2 und war unter anderem auf die tägliche Unterstützung bei der Körperpflege angewiesen“, berichtet Stephanie Lütke Wöstmann. Sie lebt mit ihrem Mann Ludger, ihren drei Kindern und den damals hochbetagten Schwiegereltern gemeinsam auf einem Schweinemastbetrieb in Ortsaußenlage. Für die Pflege des Schwiegervaters hätte sie gerne einen ambulanten Pflegedienst hinzugezogen.
Von der Pflegekasse der SVLFG habe sie eine Adressenliste mit ambulanten Pflegediensten im Umkreis erhalten, die sie alle abtelefoniert habe – vergebens. „Die Begründung hieß entweder ,Wir haben keine Kapazitäten mehr frei‘, ,Uns fehlt weiteres Fachpersonal‘, ,Ihr Wohnsitz befindet sich außerhalb unserer Touren‘ oder ,Sie wohnen zu weit außerhalb‘“, berichtet Stephanie Lütke Wöstmann.“ Selbst die Sozialstation des BHD Warendorf erklärte, Rinkerode werde von der Sozialstation gar nicht angefahren.
Anfahrt nicht wirtschaftlich
Christoph Rieper, Geschäftsführer der Sozialstation BHD Land gGmbH, weiß um die mangelnde Versorgungslage im Kreis durch die Sozialstation mit seinen vier Standorten in Milte, Warendorf, Neubeckum und Enniger. Diese Standorte seien teilweise nicht „optimal“ gelegen, um östliche und westliche Bereiche des Kreises zu bedienen. Aktuell werden Orte wie Albersloh, Everswinkel und Rinkerode im Westen sowie Wadersloh im Osten nicht angefahren, erklärt Christoph Rieper.
Pflegedienste seien wirtschaftlichen Zwängen unterworfen. „Eine kostendeckende Betreuung weit entfernt liegender Kundinnen und Kunden von den jeweiligen Standorten der ambulanten Dienste ist aufgrund geringer Kostenpauschalen nicht immer möglich“, begründet er. Für eine Tour ins rund 20 Minuten entfernte Albersloh benötige er bis zu neun Kunden.
Die Pflegedienste könnten die Fahrten im Rahmen einer Hausbesuchspauschale von rund 3,50 € pro Fahrt mit den Pflegekassen zwar abrechnen. Nur in besonderen Fälle sei auch die Abrechnung einer höheren Hausbesuchspauschale mit der Pflegekasse möglich. Doch der Betrag sei für weite Entfernungen trotz Mischkalkulation oft zu gering. Hinzu kämen höhere Spritpreise aufgrund des Ukraine-Kriegs. Bei Anfragen von nur ein oder zwei Kunden aus den Ortschaften lohne sich die Versorgung wirtschaftlich nicht. Ähnliche Auskünfte erteilen auf Nachfrage auch die Sozialstationen der Betriebshilfsdienste im Kreis Coesfeld, Borken/Bocholt und Steinfurt.
Gesetzliche Lage
Ab dem Pflegegrad 2 hat jeder Pflegebedürftige Anspruch auf eine Unterstützung durch einen Pflegedienst. „Die gesetzlichen Pflegekassen sind grundsätzlich dazu verpflichtet, eine Versorgung – auch in ländlichen Regionen – durch eine ausreichende Anzahl an Verträgen mit Leistungserbringern sicherzustellen“, erklärt das Landesgesundheitsministerium (MAGS) auf Anfrage. Informationen, dass es bei ambulanten Pflegediensten zu auffälligen strukturellen Entwicklungen bezüglich der Leistungskündigung kommt, lägen nicht vor. „Gleichzeitig kann ein Dienst nicht zu etwas Unmöglichen verpflichtet werden. Fehlt das Personal, so kann die Versorgung nicht erfolgen. Und der Mangel an Pflegekräften ist eine Tatsache“, heißt es weiter.
Der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) ist die Problematik, keinen ambulanten Pflegedienst finden zu können, nicht bekannt, heißt es auf Anfrage. Versicherte können über die Internetseite der SVLFG den Pflegelotsen nutzen und Anbieter von Pflegeleistungen in der Nähe suchen über: www.wochenblatt.com/svlfg-pflegelotse
Es fehlt an Fachpersonal
Wären dann nicht weitere Standorte für eine Sozialstation durch den BHD sinnvoll? Theoretisch vielleicht – praktisch nicht. Denn es fehlt an Pflegefachpersonal. „Aktuell würden uns pro Standort ein bis zwei Pflegekräfte zusätzlich guttun. Es bewirbt sich nur keiner“, sagt Christoph Rieper.
In einem Gespräch mit den Vorstandsmitgliedern des Kreislandfrauenverbandes Warendorf erklärte er, dass sich diese Situation zukünftig noch verstärken werde: „In den nächsten fünf Jahren gehen 15 % unserer 120 Mitarbeiterinnen in der ambulanten Pflege in den Ruhestand.“ Damit werde sich der Mangel an Pflege- und Betreuungskräften weiter verdichten. Und das gelte auch für andere Anbieter. „Dieser Mangel an Kräften wird zukünftig noch stärker zu einer Priorisierung von Pflege- und Betreuungskunden nach Wohnort und den zu erbringenden Leistungen führen“, befürchtet er.
Was die Lage der ambulanten Pflegedienste zuspitzt
Seit September 2022 müssen Pflegekräfte in der Altenpflege per Gesetz nach Tarif oder in Anlehnung an Tarifverträge bezahlt werden. Alternativ kann die Pflegeeinrichtung die Entlohnung nach dem ermittelten regionalen Durchschnitt für NRW vorsehen. Diese auf Bundesebene eingeführte Regelung in der Altenpflege sollte unter anderem dazu beitragen, Lohndifferenzen zwischen der Kranken- und Altenpflege zu verringern.
„Eine höhere Entlohnung der Pflegekräfte ist richtig“, sagt Christoph Rieper von der Sozialstation BHD Warendorf. Doch hat die gesetzliche Regelung dazu geführt, dass Leistungen in der ambulanten Pflege teurer werden. Denn höhere Personalkosten werden auf die Leistungen umgelegt. Wir haben eine etwa 10%ige Steigerung der Pflegekosten durch die höheren Tariflöhne“, sagt Christoph Rieper. Da jedoch die Erstattung der Leistungen durch die Pflegekassen im Rahmen der Pflegesachleistungen nicht entsprechend gestiegen sind, erhalten Pflegebedürftige weniger Leistungen für das gleiche Geld.
Pflege selbst übernommen
Wer dann überhaupt einen ambulanten Pflegedienst findet, der wird unter Umständen mit ihm und seinen Leistungen auskommen müssen. Stephanie Lütke Wöstmann hat irgendwann aufgegeben nach einem Pflegedienst zu suchen und die Pflege und Betreuung ihres Schwiegervaters zunächst selbst übernommen. Erst als im benachbarten Sendenhorst ein neuer Pflegedienst startet, hat sie Glück. „Dieser konnte uns in seine Tour aufnehmen“, berichtet sie.
Als der 90-jährige Schwiegervater Anfang 2020 einen weiteren Schlaganfall erleidet, kann er weder sprechen noch schlucken und muss mit einer Sonde ernährt werden – Pflegegrad 5. Ohne ambulante Pflegedienstleistung wäre die Pflege jetzt nicht mehr zu stemmen gewesen. Fortan kommt der ambulante Pflegedienst dreimal täglich. 2020/21 lief die Unterstützung durch den Pflegedienst jedoch nicht immer wie erhofft.
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„Aufgrund von Personalmangel beim Pflegedienst konnte dieser zeitweise nur zweimal täglich kommen“, erzählt sie. „Dann mussten wir doch selbst einspringen, Vorlagen wechseln, Sondennahrung verabreichen usw.“, erzählt Stephanie Lütke Wöstmann. „Wie mussten manches Mal Abstriche machen, aber man war froh, dass ein Pflegedienst kam.“
Mittlerweile ist der Schwiegervater verstorben und auch die später pflegebedürftig gewordene Schwiegermutter, für den der Pflegedienst dann kam. Doch vom Pflegebedarf der Senioren bei Lütke Wöstmanns kann inzwischen eine Nachbarin profitieren, die jetzt vom gleichen ambulanten Pflegedienst versorgt wird – weil sie auf deren Tour liegt.
Als BHD-Mitglied nicht bevorzugt
Hat der Betriebshilfsdienst (BHD) die Rechtsform eines eingetragenen Vereins oder einer gemeinnützigen Gesellschaft mit beschränkter Haftung (gGmbH), muss er den Anforderungen des Gemeinnützigkeitsrechts entsprechen. Damit muss er dem Gemeinwohl nützen und somit allen. Das gilt gleichermaßen für die Sozialstationen beim BHD, obwohl sie Tochtergesellschaften, also eigenständige Firmen, sind. Mitglieder des BHD haben keinen Rechtsanspruch auf bevorzugte Bedienung bzw. Behandlung im Pflegefall, erklärt Jörg Uennigmann, Geschäftsführer des Landesverbandes der Betriebshilfsdienste.
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