Still zu sitzen, das fällt Tim* schwer. Der Zehnjährige ist ständig in Bewegung. Trotzdem bringt er ein paar Kilo zu viel auf die Waage. „Groß und schwer war er schon bei der Geburt“, erinnert sich seine Mutter Bianca*. Bei den Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt war sein Gewicht stets im oberen Bereich dessen, was für sein Alter als normal gilt. Aber Tim war immer sportlich, spielt Basketball, geht regelmäßig zum Schwimmtraining und ist in der Freizeit viel draußen.
Bewegung fehlte
Das änderte sich in der Coronazeit. Der Sport fiel weg, und zu allem Überfluss brach sich Tim auch noch einen Fuß. An Bewegung war für mehrere Wochen nicht zu denken. Das machte sich an seinem Gewicht bemerkbar. Deshalb schlug der Kinderarzt im Sommer 2020 vor, Tim zur Teilnahme am Programm Obeldicks anzumelden. Dabei handelt es sich um eine Therapie für übergewichtige Kinder und Jugendliche (siehe Kasten). Tims Mutter war zunächst nicht überzeugt. „Warum er“, fragte sie sich. Als so dick empfand sie ihr Kind nicht. Schließlich meldete sie ihren Sohn aber doch in der Kinderklinik Datteln für das Obeldicks-Programm an.
Programm speziell für KinderFür übergewichtige Kinder und Jugendliche von 8 bis 14 Jahren und deren Eltern wurde das Programm
Obeldicks entwickelt. Ein Jahr lang treffen sich die Teilnehmer einmal pro Woche zur Bewegungstherapie, Verhaltenstherapie oder zum Ernährungskurs. Auch die Eltern werden in diesem Programm mit einbezogen.
Voraussetzung für die Teilnahme ist, dass bei dem Kind eine extreme Adipositas oder eine Adipositas mit Folgeerkrankungen vorliegt. „Außerdem muss die Motivation beim Kind erkennbar sein,“ sagt Dr. André Barth, Oberarzt an der Kinderklinik Datteln, an der das Programm Obeldicks vor etwa 20 Jahren entwickelt wurde.
Vor und während des Kurses werden die jungen Teilnehmer medizinisch und psychologisch betreut. „Bei etwa einem Viertel der Kinder sind psychische Ursachen zumindest mit verantwortlich für das Übergewicht“, schätzt Dr. Barth.
Obwohl der Mediziner das Programm als große Chance für Kinder mit Übergewicht sieht, muss er feststellen, dass ein Teil der Teilnehmenden zwar zunächst abnimmt, nach Ende des Kurses aber wieder an Gewicht zunimmt. „Es gibt aber auch einige, bei denen es erst nach dem Kurs Klick macht“, stellt er fest. Auch dann kann das in dem Kurs Gelernte eine Hilfestellung zu einem gesünderen Lebensweg sein.
Inzwischen ist der Kurs abgeschlossen. Ein Jahr lang ging Tim jeden Mittwoch zur Therapie. Hier lernte er zum Beispiel, welche Lebensmittel er nur in kleinen Mengen essen sollte und was er bei Heißhunger auf Süßes machen kann. Nach der Theorie folgte immer ein Sportprogramm. Das hat ihm gut gefallen, die Theorie dagegen fand er „doof“. „Bewegung war nie das Problem“, sagt seine Mutter. „Er isst einfach gerne“, stellt sie fest. Bei den Mahlzeiten nimmt er sich häufig zwei oder drei Mal einen Nachschlag.
Lebensmittelampel hilft beim Einkauf
In dem Programm haben sie und ihr Sohn viel Neues gelernt. Hilfreich findet sie beispielsweise die Lebensmittelampel, die Produkte in rot, grün und gelb einteilt. „Ich nehme jetzt zum Beispiel anstelle von Salami Geflügelmortadella“, sagt sie. Beim Kochen ersetzt sie Sahne nach Möglichkeit durch Joghurt. Auch einige der Rezepte, die sie dort kennengelernt hat, hat sie in die Familienküche integriert.
Bremsen möchte Bianca ihren Sohn beim Essen ungern. Ihr ist es wichtig, dass die Mahlzeiten nicht mit Stress verbunden sind. Wenn Tim sich aber wieder einmal einen Nachschlag nehmen möchte, fragt sie ihn manchmal: „Hast du wirklich noch Hunger oder nur Appetit?“ Und anstatt einer weiteren Schnitte Brot schlägt sie ihm vor, ein Stück Obst zu essen.
Rechtzeitig gehandelt
Keine Frage: Ein Jahr lang einen Nachmittag pro Woche für das Programm zu investieren, war für Tim und seine Mutter ein Herausforderung. Vor allem am Anfang fühlte sich Bianca durch das Programm gestresst. „Ich dachte, ich muss alles sofort umsetzen“, begründet sie. Das wurde aber gar nicht erwartet. „Besser ist es, nach und nach kleine Veränderungen im Alltag vorzunehmen“, hat sie gelernt.
Dass der Kurs etwas gebracht hat, zeigte sich bei der medizinischen Untersuchung am Ende. Zu Beginn lag Tims Gewicht knapp über der Grenze zur Adipositas, also zum krankhaften Übergewicht. Nach Abschluss der Therapie lag er knapp unterhalb der Grenze zum Übergewicht.
„Wir haben alles richtig gemacht. Es lohnt sich, früh damit anzufangen“, ist Bianca überzeugt. Wenn Tim weiterhin so viel Sport macht, sollte er auf Dauer wenig Probleme mit seinem Gewicht bekommen.
* Namen von der Redaktion geändert
Was ist zu viel?
Kinderärzte orientieren sich für die Beurteilung des Gewichts bei Kindern an der BMI-Perzentile. Von Übergewicht sprechen sie ab einer BMI-Perzentile von 90. Das bedeutet, dass 10 % der gleichaltrigen Kinder einen höheren BMI haben als das betreffende Kind. Ab einer BMI-Perzentile von 97 gilt das Kind als adipös, also als fettleibig, ab 99,5 sprechen die Ärzte von schwerer Adipositas.
Dr. Matthias Kaminski, Ärztlicher Leiter der Kinderfachklinik Bad Sassendorf, rät, schon bei Babys das Gewicht im Blick zu haben und gegebenenfalls mit dem Kinderarzt zu sprechen. Verliert sich der Babyspeck beim Kleinkind nicht, sollte schon im Vorschulalter interveniert werden. Eltern sollten gemeinsam mit dem Kinderarzt oder mit einem Ernährungsberater das Ernährungs- und Bewegungsverhalten des Kindes überprüfen und beides nach Möglichkeit in eine Balance bringen, rät der Mediziner. In diesem Alter sei das noch relativ leicht möglich, denn ein Kleinkind kann nur das essen, was ihm angeboten wird. Und das Angebot steuern die Eltern.
Übergewicht hat Folgen für Körper und Psyche
Übergewicht ist für Kinder ein Teufelskreis. Wenn sie bei sportlichen Aktivitäten nicht mit Gleichaltrigen mithalten können, ist die Gefahr groß, dass sie gemobbt werden. Die Folge: Sie ziehen sich zurück und meiden jede Form von Sport. Durch die mangelnde Bewegung nehmen sie noch mehr an Gewicht zu. Kritische Phasen in der Gewichtsentwicklung sind häufig die Zeit rund um die Einschulung und später in der Pubertät. Dann sollten Eltern besonders aufmerksam sein.
Die Kinder selbst reden sich ihre Situation oft schön, stellt Dr. Matthias Kaminski fest. Sie sagen beispielsweise: „Ich bin gerne allein.“ Tatsächlich leiden sie aber sehr unter der Situation.
Zu den psychischen und sozialen Folgen des Übergewichts kommen etwa ab der Pubertät möglicherweise körperliche dazu. So gibt es immer mehr Jugendliche, die an Prädiabetes oder sogar an Diabetes Typ 2 leiden. Auch eine nichtalkoholische Fettleber wird immer häufiger bei Minderjährigen diagnostiziert, sagt der Mediziner. Manche haben zudem mit chronischen Schmerzsymptomen zu kämpfen, wie Gelenkschmerzen.
Bis vor wenigen Jahren wurde bei kindlichem Übergewicht nur dann eine Reha gewährt, wenn bereits Folgeerkrankungen diagnostiziert waren. Das hat sich geändert. „Zum Glück“, sagt Dr. Matthias Kaminski. Denn je früher die Kinder eine Reha machen, desto größer sind die Erfolgsaussichten.
Wahr ist aber leider auch, dass viele Kinder nach der Reha wieder zunehmen. Nicht selten kommen sie deshalb mehrmals in die Kinderfachklinik, um hier abzunehmen und ihr Ernährungs- und Bewegungsverhalten auf den Prüfstein zu stellen. „Steter Tropfen höhlt den Stein“, sagt Dr. Kaminski und hofft, dass die Bemühungen seines Teams früher oder später Früchte tragen. Wissenschaftlich überprüft wurde der langfristige Erfolg bisher allerdings nicht.
Lesen Sie mehr: