Sucht kennt kein Alter

Ob Medikamente, Alkohol oder andere Drogen – auch ältere Personen können süchtig danach sein. Das ist ein häufig unterschätztes Problem. Eine Therapie lohnt sich in jedem Alter, sagt Psychologe Frank Quibeldey im Interview.

Frank Quibeldey ist Psychiater am St. Marien-Hospital in Hamm.

Dort arbeitet der Mediziner in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Als Oberarzt der Gerontopsychiatrie behandelt er zunehmend ältere Menschen, die Suchtmittel konsumieren und nicht mehr davon loskommen. Wir trafen ihn auf einer Informationsveranstaltung zum Thema Sucht im Alter im Everswinkler Seniorenzentrum St. Magnus-Haus im Kreis Warendorf.

Wochenblatt: Wenn Sie von Sucht im Alter sprechen, meinen Sie welche Altersgruppe? Was zeichnet sie aus?

Frank Quibeldey: Mit dem Beginn des Rentenalters von derzeit 65 Jahren, spricht man von Alter. Heute zählt bereits jeder vierte Bundesbürger dazu. Dabei steigt der Anteil der Hochbetagten. Über 70 % der älteren Menschen leben allein. Im Durchschnitt leiden sie an 3,5 der chronischen Hauptdiagnosen wie Gicht, Diabetes, Osteoporose oder Bluthochdruck.

Wochenblatt: Welche Faktoren begünstigen Abhängigkeiten und gelten als Auslöser dafür?

Frank Quibeldey: Es gibt viele Gründe, warum ältere Menschen süchtig werden können. Unverarbeitete traumatische Erfahrungen wie Kriegserlebnisse oder der Verlust von Ehepartnern oder Kindern, das Gefühl nicht mehr gebraucht zu werden, Einsamkeit, Ängste, aber auch vermehrte körperliche Beschwerden, sind nur einige Beispiele. Mit Suchtmitteln wird häufig versucht, körperliche Beschwerden zu lindern oder negative Gefühle besser zu ertragen.

Wochenblatt: Wie macht sich Sucht bei alten Menschen bemerkbar?

Frank Quibeldey: Klassische Suchtsymptome gibt es nicht. Die Beschwerden verstecken sich häufig hinter anderen Symptomen, die man sowieso im Alter erwarten würde. Alte Menschen ziehen sich häufig aus dem sozialen Umfeld zurück. Viele sind zunehmend antriebsarm und verlieren das Interesse an Hobbys. Stimmungsschwankungen, Gleichgewichts-, Gedächtnis- und Schlafstörungen können auftreten ebenso wie Inkontinenz, Bluthochdruck, Gewichtsverlust oder ein instabiler Diabetes. All diese Symptome können altersbedingt auftreten. Sie können aber auch Hinweise auf eine Medikamenten- oder Alkohlabhängigkeit geben. Diese zu erkennen ist daher oft schwierig.

Wochenblatt: Welche Rolle spielt die Medikamentenabhängigkeit im Alter?

Frank Quibeldey: Eine relativ große Rolle – bei Frauen mehr als bei Männern. Mit dem Alter nehmen Krankheiten zu, die medikamentös behandelt werden. Ältere Menschen schlucken durchschnittlich acht Arzneien täglich. Etwa fünf Prozent der ‚typischen‘ Medikamente, die eingenommen werden, haben das Potential abhängig zu machen. Hierzu zählen vor allem Schlaftabletten und Beruhigungsmittel wie Benzodiazepine. In diese Gruppe fallen Präparate wie Diazepam, Adumbran, Tavor, Oxazepam, Bromazanil, Normoc oder Lexotanil. Aber auch opiathaltige Schmerzmittel, und frei verkäufliche Kombinationspräparate haben Suchtpotential. Bei Schlaftabletten beispielsweise stellt sich nach zwei bis drei Wochen regelmäßiger Einnahme häufig ein Toleranzeffekt ein. Dann muss die Dosis erhöht oder das Mittel gewechselt bzw. mit anderen Mitteln kombiniert werden, um den gleichen Effekt zu erzielen. Daraus entwickelt sich schnell eine Abhängigkeit.

Wochenblatt: Alkoholkonsum wird gesellschaftlich toleriert. Ab wann liegt eine Abhängigkeit vor?

Frank Quibeldey: Eine Abhängigkeit von Medikamenten, Nikotin oder Alkohol macht sich immer körperlich und geistig bemerkbar. Alkoholabhängige beispielsweise sind kaum fähig, den Konsum zu kontrollieren. Irgendwann trinken sie, um Entzugssymptome wie Händezittern zu mildern oder zu vermeiden. Es wird immer mehr getrunken, um die zuvor gewünschte Wirkung zu erzielen. Der Tagesablauf wird so eingerichtet, dass regelmäßig Alkohol konsumiert werden kann. Und es wird weiter getrunken, trotz klarer Hinweise auf negative Folgen.

Wochenblatt: Was macht die Sucht im Alter so gefährlich?

Frank Quibeldey: Im Alter funktioniert der Stoffwechsel häufig nicht mehr so schnell und gut. Medikamente und Alkohol können in der Leber nicht mehr so zügig abgebaut werden. Die Wirkstoffe sammeln sich an und ungewünschte Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten treten auf. Alkohol kann zusätzlich die Wirkung von Arzneien vermindern bzw. verstärken. Das betrifft häufig Medikamente gegen Bluthochdruck, Allergien oder Magen-Darmbeschwerden. Alkohol kann aber auch einen negativen Einfluss auf Antibiotika oder Psychopharmaka nehmen.

Wochenblatt: Bei welchen Anzeichen sollten Angehörige hellhörig werden?

Frank Quibeldey: Genauer sollte man hinschauen, wenn Angehörige häufiger stürzen oder in Verkehrsunfällen verwickelt sind. Auch hinter Verwirrtheitszuständen und mangelnder Ernährung kann sich eine Tabletten- oder Alkoholabhängigkeit verstecken. Mangelnde Körperhygiene ist ebenfalls ein typisches Anzeichen.

Wochenblatt: Wie können Angehörige das Thema ansprechen?

Frank Quibeldey: Angehörige sollten über die Sucht nicht einfach hinwegsehen, sondern behutsam ein Gespräch suchen. Machen Sie Ihre Betroffenheit deutlich und sprechen aus der Ich-Perspektive wie „Ich mache mir Sorgen um dich, weil Du häufiger gestürzt bist. Auf mich wirkst du häufig traurig und zittrig. Ich habe das Gefühl, dass du zu viel Alkohol trinkst.“ Hilfreich ist es, wenn sich alle Familienangehörige verbrüdern und das Verhalten ansprechen, ohne Vorwürfe zu machen. Zeigen Sie Mitgefühl, aber auch mögliche Konsequenzen des Missbrauchs und Lösungswege auf. Sprechen Sie mit dem Hausarzt. Auch er kann die Abhängigkeit behandeln oder zu einem Facharzt überweisen. Ist eine Entzug- und Entgiftungsphase notwendig, folgt dieser eine längere Entwöhnungsphase. Das Ziel ist, dass es den alten Menschen wieder besser geht, dass sie nicht mehr stürzen und wieder einen gesunden Tag-Nachtrhythmus entwickeln. LHo