Nur die Hand ausgerutscht?

Pro Woche werden in Deutschland 70 Kinder durch Erwachsene so schwer verletzt, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen.

Aus psychologischer Sicht ist es verständlich, wenn Eltern im Rahmen der Kindererziehung auch mal die Hutschnur hochgeht. Aufsteigende Aggressionen sind normal.

Doch der Umgang damit ist entscheidend. Erwachsensein heißt Regeln zu kennen und einzuhalten, sich zu äußern, wenn es Probleme gibt und die Ruhe zu bewahren. Ein kleines Kind ist dazu nicht in der Lage. Es kann sich nicht selbst beruhigen. Es schreit, weil es seine Bedürfnisse nach Nahrung, Nähe usw. befriedigen möchte, und kennt noch keine Regeln.

Immer wieder wird dies von Eltern aus unterschiedlichen Gründen nicht bedacht und sie reagieren mehr als unangemessen. So werden nach Expertenschätzungen deutschlandweit jedes Jahr mehr als 200 000 Kinder schwer misshandelt. Laut Kriminalstatistik sterben jede Woche drei Kinder an den Folgen häuslicher Gewalt.

Verletzung dokumentiert

Wird ein Kind geschlagen oder auf andere Art körperlich misshandelt, so finden sich fast immer sichtbare Verletzungen wie zum Beispiel Blutergüsse. Psychische Gewalt hinterlässt keine äußerlich sichtbaren Spuren. Sie führt aber oft zu Verhaltensänderungen der Kinder wie Aggressivität oder ein Stillwerden, Leistungseinbußen in der Schule oder neu auftretendes Bettnässen.

Wird ein Kind vernachlässigt, geben ein ungepflegtes Äußeres, das Tragen verschmutzter oder der Witterung nicht angemessener Kleidung, unregelmäßiger Besuch von Kita und Schule, fehlendes Pausenbrot oder Arbeitsmaterialien mögliche Hinweise. Bei der überwiegenden Anzahl der misshandelten Kinder handelt es sich um Kleinkinder unter drei Jahren. In diesem Alter können sie sich bezüglich der Verletzungsursache oft nicht äußern.

Hilfe finden:
Besteht ein Verdacht auf Kindesmisshandlung, sollten Fachleute angesprochen werden wie Kinderschutzbund, Jugendamt oder Familien- und Erziehungsberatungsstellen, die solche Informationen auf Wunsch auch vertraulich behandeln. Wird die Polizei eingeschaltet, werden auf jeden Fall Ermittlungen eingeleitet und gegebenenfalls Strafanzeige erstattet.
In akuten Notsituationen helfen Sorgentelefone oder auch die Polizeidienststellen weiter.
Das Internetportal www.gewalt-gegen-kinder.de bietet neben einem Leitfaden viele weiterführende Informationen, Ansprechpartner und ­Adressen mit einem umfangreichen Verzeichnis von 1500 Einrichtungen in NRW

Der Arzt kann das Kind am ganzen Körper untersuchen sowie das Miteinander der Familienmitglieder und die des Kindes mit seinen Bezugspersonen beobachten. Lassen sich die Verletzungsmuster des Kindes nicht plausibel durch den von den Eltern berichteten Unfallhergang erklären, sollte er handeln. Wichtig ist eine exakte Dokumentation der Verletzungen mittels Fotos oder Röntgenaufnahmen, die bei einem eventuell stattfindenden Strafprozess als Beweismaterial Bestand haben. Ein Rechtsmediziner sollte hinzugezogen werden.

Häufige Verletzungsmuster

Verletzungen, die misshandlungsbedingt sein können, sind:
Knochenbrüche, insbesondere bei Säuglingen. Bis zu 12 % aller Knochenbrüche bei Kindern sind Folge einer Misshandlung. Bei mehr als der Hälfte dieser Kinder lassen sich im Röntgenbild weitere Frakturen nachweisen, typischerweise in unterschiedlichen Alters- und Heilungsstadien. Wird ein Knochenbruch zufällig diagnostiziert, ist das Kind jünger als ein Jahr und lässt sich der Knochenbruch durch die Vorgeschichte nicht plausibel erklären, wird der Arzt in jedem Fall aufhorchen.

Verbrühungen und Verbrennungen. Sie sind beispielsweise als ein- oder beidseitige socken- oder handschuhförmige Muster an Händen oder Füßen zu erkennen. Die Mehrzahl misshandlungsbedingter Verbrühungen ist durch Eintauchen in heiße Flüssigkeit bedingt. Diese Form der Misshandlung kommt besonders oft bei Konflikten im Rahmen der Sauberkeitserziehung vor. Dagegen kommt es bei Unfällen mit heißen Flüssigkeiten typischerweise zum Übergießen von oben, zum Beispiel durch Herabziehen einer Tischdecke mit heißer Flüssigkeit.

Sonderfall Schütteltrauma

Eltern wissen häufig nicht, wie gefährlich das Schütteln eines Babys ist. Verlieren sie in einem Moment der Überforderung die Kontrolle und schütteln das Kind heftig, kann es durch die noch schwache Halsmuskulatur den Kopf nicht stabilisieren. Dieser schlägt unkontrolliert vor und zurück. Dabei entstehen zwischen dem Gehirn und dem Schädelknochen starke Scherkräfte, die dazu führen, dass Nervenfasern abreißen und Blutgefäße zerreißen.

Die Folge können Krampfanfälle, Atemstörungen, Koma oder sogar der unmittelbar eintretende Tod sein. Äußerliche Verletzungen fehlen, Netzhauteinblutungen sind aber oft vorhanden. Ein Schütteltrauma ist für das kindliche Gehirn so gravierend, dass ein Viertel der Kinder innerhalb von Tagen bis Wochen daran verstirbt. Zwei Drittel der Überlebenden erleiden mehr oder weniger schwere Folgeschäden.

Was Kindeswohl gefährdet

Die Ursachen für Misshandlungen von Kindern und Jugendlichen sind vielfältig. Aufseiten der Eltern können Gefühle von Hilflosigkeit, Überforderung, Ängste, Ärger, Konflikte in der Partnerschaft oder eigene psychiatrische Erkrankungen sowie Sucht eine Rolle spielen. Auch eigene Gewalterfahrungen in der Kindheit und eine Persönlichkeitsstruktur mit antisozialen Persönlichkeitstendenzen, einer Beziehungsunfähigkeit oder negativer Emotionalität können den Umgang mit dem Kind beeinflussen. Hinzu kommen oft familiäre Lebensumstände wie niedriges Einkommen oder innerfamiliäre Konflikte, die eine Kindeswohlgefährdung begünstigen. Dr. med. Schulze Everding