Die Krankheit steckt im Hof“, so sagten die Leute damals. Sein Schwiegervater hatte es und vor ihm wohl schon mehrere Familienmitglieder. Von all dem wusste Rudi Matzke nichts, als er 1971 seine Frau Hannelore heiratete und zu ihr auf den Hof in Espelkamp-Isenstedt zog. Damals ahnte der heute 70-Jährige nicht, dass er schon wenig später seine Frau bis zu ihrem Tod pflegen würde. Und damit nicht genug. Heute ist es sein Sohn, den er umsorgt. Denn auch er ist erkrankt. Inzwischen hat der Fluch auch einen Namen: Huntington (siehe Kasten).
Gendefekt führt zur Huntington-Krankheit
Morbus Huntington, auch Chorea Huntington oder Huntington-Krankheit genannt, ist eine seltene, vererbbare Erkrankung des Gehirns. In Deutschland sind etwa 10 000 Menschen davon betroffen. Sie bricht meist zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr aus, kann aber auch schon Kinder betreffen.
Es handelt sich um eine fortschreitende Erkrankung, deren Verlauf sehr unterschiedlich sein kann. Charakteristische Symptome sind neurologische Störungen, wie unkontrollierbare oder verlangsamte Bewegungen. Typisch sind auch psychische Veränderungen, wie Depressionen und vermehrte Reizbarkeit, später auch ein Rückgang der intellektuellen Fähigkeiten.
Ursache für die Erkrankung ist ein mutiertes Gen. Die Wahrscheinlichkeit, das Gen von einem erkrankten Elternteil zu erben, liegt bei 50 %. Das mutierte Gen bildet einen veränderten Eiweißbaustein. Das daraus gebildete Eiweiß heißt Huntingtin. Dieses Eiweiß hat jeder Mensch. Bei Huntington-Patienten liegt es jedoch in einer veränderten Form vor.
Das veränderte Huntingtin kann schlechter von den Nervenzellen abgebaut werden. Das führt dazu, dass die Nervenzelle nicht mehr richtig funktionieren kann und schließlich zerstört wird. Daraus resultieren die neurologischen und psychischen Veränderungen bei den Patienten.
Die Symptome der Krankheit können auch auf andere Erkrankungen hindeuten. Die klinische Diagnose lässt sich, nach Einverständnis des Patienten, über einen Gentest sichern. Dieser Test kann, sofern Familienmitglieder von der Krankheit betroffen sind, auch vorhersagend durchgeführt werden, bevor Beschwerden bestehen. Das ist aber erst ab einem Alter von 18 Jahren möglich. Voraussetzung ist eine umfangreiche Beratung und psychologische Betreuung vor und möglichst auch nach dem Test.
Frühe Anzeichen der Krankheit
Heute weiß Rudi Matzke, dass seine Frau schon vor der Hochzeit erste Anzeichen der Krankheit hatte. Beispielsweise veränderte sich ihr Gang. Wenn er sie jedoch darauf ansprach, wurde sie „bockig“, wie Rudi Matzke es nennt. Nach der Hochzeit wurden die Symptome schlimmer. Lange weigerte sie sich, deswegen zu einem Arzt zu gehen. Als er es schließlich schaffte, sie in eine Praxis zu bringen, äußerte der Arzt schnell den Verdacht, dass sie an Huntington erkrankt sei. Ein Spezialist in Düsseldorf hatte die gleiche Vermutung. Eindeutig nachweisen ließ sich die Krankheit damals noch nicht.
Erst gegen Ende der 90er-Jahre wurde das Gen entdeckt, das für die Erbkrankheit verantwortlich ist. Hannelore Matzke ließ einen Gentest machen. Drei Wochen später erhielt sie das Ergebnis: Es war Huntington.
Die folgenden Jahre waren sehr schwer für die Familie. Hannelore wurde immer unselbstständiger und zog sich fast völlig aus der Öffentlichkeit zurück. Sie bekam Krämpfe und war schließlich bettlägerig. Neben seinem Beruf als Mechaniker kümmerte sich Rudi Matzke um ihre Pflege. Unterstützt wurde er dabei von seiner Schwiegertochter. Die Landwirtschaft, die er im Nebenerwerb betrieben hatte, gab er auf, weil dafür Zeit und Kraft fehlten.
Besonders schlimm waren die letzten fünf Jahre. Hannelore Matzke war sehr unruhig und weinte viel. Es fiel ihr schwer, die Krankheit anzunehmen. 2003 starb Hannelore im Alter von nur 52 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung.
Erst die Frau, dann der Sohn
Für Rudi Matzke war das Thema Huntington damit aber nicht vorbei. Seine drei Söhne standen vor der schwierigen Entscheidung, ob sie einen Gentest machen lassen sollten. Mit dem Ergebnis des Tests hätten sie Gewissheit, ob auch sie an Huntington erkranken werden. Der älteste und der jüngste Sohn entschieden sich dagegen. Nur der mittlere Sohn Stefan ließ sich 2004 testen. Wenige Wochen später stand fest: Stefan ist ebenfalls betroffen.
Für den jungen Mann war das eine Katastrophe. Er war Fliesenleger und spielte mit dem Gedanken, sich selbstständig zu machen. Erste Anzeichen der Krankheit machten sich aber bereits bemerkbar. Er konnte dem geforderten Arbeitstempo nicht mehr gerecht werden und erhielt schließlich die Kündigung.
Inzwischen ist Stefan 44 Jahre und erwerbsunfähig. Die Krankheit ist ihm deutlich anzumerken. Er geht recht steif und hat zum Beispiel Schwierigkeiten, seine Hände kontrolliert zu benutzen. Hinzu kommen Kau- und Schluckbeschwerden und eine undeutliche Aussprache. Sein Vater berichtet auch von auffälligen Wesensveränderungen. Stefan sei sehr eigenwillig geworden, mitunter aggressiv.
Kein geeigneter Pflegeplatz
Heute lebt Stefan Matzke zusammen mit seinem Vater auf dem Hof in Espelkamp. Rudi Matzke kümmert sich um ihn, macht den Haushalt und kocht für beide. Das macht er gern, aber hin und wieder braucht auch er eine Auszeit. Doch für junge Patienten wie Stefan gibt es kaum geeignete Einrichtungen zur Kurzzeitpflege.
Rudi Matzke weiß, dass sich Stefans Zustand weiter verschlechtern wird. „Es kommt eine schwere Zeit auf mich zu“, sagt er. Wie lange er es noch schaffen wird, seinen Sohn zu versorgen, das weiß er nicht. Ein Trost ist ihm, dass sich sein ältester Sohn und dessen Frau um Stefan kümmern werden, wenn er es einmal nicht mehr kann. Aber daran mag er heute noch nicht denken.
Den ausführlichen Beitrag mit Informationen über Vor- und Nachteile des Gentests sowie dem Stand aktueller Forschungsansätze lesen Sie auf den Gesundheitsseiten des Wochenblattes, Folge 20/2019.
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