Frühchen

Frühgeburt: Um das Erlebnis betrogen

Yvonne und Bernhard Rölfing freuen sich auf ihr erstes Kind. Sie befinden sich mitten in den Vorbereitungen für ein eigenes Heim mit Kind, als ein Notkaiserschnitt die Schwangerschaft jäh beendet.

Ende 2017: Yvonne und Bernhard Rölfing sind guter Hoffnung. Im Frühjahr soll ihr erstes Kind zur Welt kommen. Das junge Paar ist gerade dabei, dass Dachgeschoss des elterlichen Wohnhauses für sich umzubauen. Bernhard ist Landwirt. Yvonne ist als Notarfachwirtin in Coesfeld tätig. Kurz vor Weihnachten nimmt sie Urlaub und wird anschließend nahtlos in den Mutterschutz gleiten.

Sie freut sich auf die Zeit. Dann endlich kann sie sich verstärkt um den Ausbau kümmern und Vorbereitungen für das Kinderzimmer und die Geburt treffen. Soweit die Theorie, denn es kommt ganz anders. Yvonne plagen plötzlich unerträgliche Magenschmerzen und sie hat Bluthochdruck. Yvonne entwickelt eine schwere Gestose.

Was unter Gestose zu verstehen ist

Gestose bezeichnet den Oberbegriff für eine „gestörte Schwangerschaft“. Sie umfasst Erkrankungen während einer Schwangerschaft, die mit einem Bluthochdruck von 140:90 mmHg und höher einhergehen. Daneben scheidet der Körper auch vermehrt Eiweiß aus. Sie verursacht etwa 30 % der Frühgeburten. Der veraltete Begriff Schwangerschaftsvergiftung ist irreführend, weil der Auslöser kein Schwangerschaftsgift ist. Die genauen Ursachen einer Gestose sind noch völlig unbekannt. Die schwerste Form einer Gestose ist die Eklampsie. Typische Beschwerden sind Oberbauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen oder auch Sehstörungen wie Augenflimmern. Die Therapie erfolgt je nach Schweregrad. Ist eine medikamentöse Therapie nicht erfolgreich, muss die Schwangerschaft meist vorzeitig beendet werden.

Da stimmt etwas nicht

Yvonne wird in der Christophorus-Klinik Coesfeld behandelt. Sie erhält eine Cortisonspritze, um die Lungenreife des noch ungeborenen Kindes zu fördern. Doch der Bluthochdruck lässt sich medikamentös nicht in den Griff bekommen. Innerhalb von vier Stunden steigt der Druck auf 245/140 mmHg an. Das Leben von Yvonne und ihrem ungeborenen Kind sind in Gefahr. Jetzt muss es ganz schnell gehen: Notkaiserschnitt in Vollnarkose. Aus der Traum von einer normalen Geburt und einem voll ausgetragenen Kind. Stattdessen Angst und Gefühlschaos. „Ich fühlte mich von der Situation völlig überrollt, wollte einfach nur nach Hause“, reflektiert Yvonne Rölfing. Und Ehemann Bernhard sieht sich „plötzlich mitten in einem Film drin, den er nicht anhalten kann.“

Um 20.45 Uhr wird Sohn Tim geboren. Er bringt 1450 g auf die Waage und kann direkt selbst atmen, benötigt lediglich etwas Sauerstoffunterstützung. Er kommt auf die neonatologische Intensivstation und bleibt dort mehrere Wochen. Auch Yvonne verbringt die Nacht auf der Intensivstation. „Gegen ein Uhr hatten sich die Blutdruckwerte dann endlich einigermaßen normalisiert. Da wusste ich, sie hat es geschafft“, berichtet Bernhard Rölfing.

Yvonne sieht ihren Sohn erst am nächsten Tag. „Auf einmal ist alles anders. Dein Kind ist aus dir raus und liegt da an Schläuchen“, erzählt sie unter Tränen. Körperlich erholt sich Yvonne von den Strapazen und verlässt nach wenigen Tagen das Krankenhaus. Fortan fährt sie täglich für drei bis vier Stunden in die 45 km entfernte Klinik. Tim hat wie viele Frühchen mit Anfangsschwierigkeiten zu tun. „Es gab auch einen Tag, da ging es Tim so schlecht, dass ich ihn nicht aus dem Inkubator nehmen durfte“, erinnert seine Mutter mit Tränen in den Augen. Jeden Tag verabschiedet sie sich von ihm in der Angst, ihn womöglich doch noch zu verlieren.

Tim entwickelt sich derzeit gut. (Bildquelle: G. Lütke Hockenbeck)

Es bleiben Schuldgefühle

Ihre Wunde am Bauch verheilt. Offen bleibt jedoch jene, die die Frühgeburt ihr seelisch zugefügt hat. Sie fühlt sich nicht nur um die Freude über die Geburt betrogen. „Ich habe mir lange Zeit die Schuld gegeben, dass alles so gelaufen ist“, berichtet Yvonne Rölfing.

Seelische Unterstützung ist jetzt für beide Elternteile wichtig. Rölfings erfahren diese durch viele Helfer wie den Pflegekräften, der Hebamme und der psychosozialen Elternbegleitung im Krankenhaus. Gut tut ihnen auch der Austausch mit anderen betroffenen Eltern auf der Station des Krankenhauses.

Als Tim mit sieben Wochen an einem Leistenbruch operiert wird und wieder auf die Intentivstation muss, droht das seelisch labile Kartenhaus erneut einzustürzen. Die Angst um das Frühgeborene schwingt immer mit. Doch im Laufe der Zeit stabilisiert sich Tims Zustand. Yvonne wird immer sicherer im Umgang mit dem Frühchen und schließlich kann er die Klinik nach achteinhalb Wochen nach Hause verlassen.

Zuhause sind die Nächte oft unruhig

Zu Hause ist Tim sehr unruhig. Ein- und Durchzuschlafen fällt ihm schwer. „Die ersten Nächte haben wir nicht schlafen können“, erinnert sich seine Mutter. Hinzu kommen in den ersten Lebensmonaten auch Schwierigkeiten mit der Verdauung und ein Infekt, der einen weiteren Krankenhausaufenthalt notwendig macht. Situationen wie diese, beängstigen das junge Elternpaar immer wieder von Neuem.

„Wir waren so froh, dass uns in dieser Zeit eine Nachsorgemitarbeiterin des Bunten Kreises Münsterland e.V. unterstützt hat. Bei ihr konnten wir Sorgen und Probleme loswerden“, sind sich die Eltern einig. Für etwa ein halbes Jahr begleitet Christine Schulze Bröring die junge Familie.

Der Bunte Kreis Münsterland e.V.

Seit 2000 organisiert der Verein zur Familiennachsorge „Bunter Kreis Münsterland e.V.“ mit seinen drei Teams in Coesfeld, Münster und Rheine die Nachsorge von Familien mit früh- und risikogeborenen sowie chronisch und schwer kranken Kindern. In der Regel beginnt die Nachsorge bereits während des stationären Aufenthaltes. So auch bei Familie Rölfing. Näheres unter: www.bunter-kreis-muensterland.de

Christine Schulze Bröring vom Bunten Kreis Münsterland e.V. (Bildquelle: G. Lütke Hockenbeck)

Oft ist eine engmaschige ärztliche Kontrolle der Frühchen wichtig, ebenso therapeutische Maßnahmen wie Frühförderung, Ergo- oder Physiotherapien, erklärt Christine Schulze Bröring. Bei Bedarf organisiert sie ein solches Versorgungsnetzwerk. In der Nachsorge gehe es aber auch um die Eltern. Sie vermittelt ihnen Sicherheit, stärkt ihre Kompetenzen und fängt das traumatische Erlebnis einer Frühgeburt so gut es geht auf.

„50 bis 75 % der Mütter sind traumatisiert“, sagt Schulze Bröring. Väter fühlen sich ähnlich beeinträchtigt. Der Schock über die vorzeitige Geburt, die potenzielle Todesgefahr, das Leiden am Leid des Kindes, die Ohnmacht und Verzweiflung, aber auch der Ärger und die Wut wirkten sich oft noch nachhaltig aus. „Wir stehen für Gespräche zur Verfügung. Doch die Verarbeitung der Frühgeburt braucht oft Zeit“, argumentiert Schulze Bröring. Die ständige Unsicherheit und Achtsamkeit, ob man alles richtig mache, gepaart mit Schuldgefühlen, sei ein komplexes System, das alle Frühcheneltern durchmachten.

Die ausführliche Reportage ist nachzulesen auf den Gesundheitsseiten der Wochenblattausgabe 9/2019.

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