Die Selbstständigkeit zählt

Mit Jahresbeginn wird das Zweite Pflegestärkungsgesetz wirksam. Wir haben Heike Riering, Pflegedienstleiterin des ambulanten Pflegedienstes beim Betriebshilfsdienst Coesfeld, befragt, welche neuen Bewertungsmodalitäten gelten.

Mit Jahresbeginn wird das Zweite Pflegestärkungsgesetz wirksam. Es bringt einige Veränderungen mit sich: Eine Pflegebedürftigkeit wird nun in fünf Pflegegrade eingeteilt und es wird nach neuen Maßstäben begutachtet.

Wann gilt jemand als pflegebedürftig? Wie beeinträchtigt muss er sein, um Leistungen aus der Pflegeversicherung in Anspruch nehmen zu können? Wer das beurteilt, das sind die Medizinischen Dienste der Krankenkassen (MDK) oder andere Dienste, die im Auftrag der Pflegekasse Gutachten erstellen. Diese Pflegegutachten dienen der Pflegekasse als Grundlage für die Entscheidung über eine Pflegebedürftigkeit.

Seit Jahresbeginn gilt ein neues Prüfverfahren, das neue Bewertungsmaßstäbe zur Pflegebegutachtung setzt. So sieht es das zweite Pflegestärkungsgesetz (PSG II) vor, das seit 1. Januar 2017 wirksam ist. Wir haben Heike Riering, Pflegedienstleiterin des ambulanten Pflegedienstes beim Betriebshilfsdienst (BHD) Coesfeld, befragt, mit welchen neuen Bewertungsmodalitäten zu rechnen ist.

Wochenblatt: Wer ist pflegebedürftig?

Riering: Pflegebedürftig sind Menschen, die gesundheitlich bedingt in ihrer Selbstständigkeit und in ihren Fähigkeiten beeinträchtigt sind und deshalb Hilfe durch andere benötigen. Der Mensch ist nicht in der Lage, körperliche, geistige oder psychische Belastungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen selbstständig zu kompensieren oder zu bewältigen. Diese Bedürftigkeit muss für die Dauer von voraussichtlich mindestens sechs Monaten bestehen.

Wochenblatt: Was ändert sich grundsätzlich an der Beurteilung von Pflegebedürftigkeit?

Riering: Wer jetzt einen Antrag auf Pflegebedürftigkeit stellt, wird nach einem neuen Punktesystem beurteilt. In dem werden körperliche, geistige und psychische Beeinträchtigungen gleichermaßen berücksichtigt. Der Gutachter zählt nicht mehr die Minuten, die für die Grundpflege oder die hauswirtschaftliche Versorgung notwendig sind.

Ausschlaggebend ist künftig, wie selbstständig der pflegebedürftige Mensch im Alltag ist, welche Fähigkeiten er noch besitzt und wie diese eventuell gefördert werden können. Das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit wird von gering – das entspricht dem Pflegegrad 1 – bis schwerst beeinträchtigt mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung – das entspricht dem Pflegegrad 5 – definiert.

Den Pflegegrad ermitteln die Gutachter nach einem Punktesystem in sechs Lebensbereichen. Mithilfe einer mehrschrittigen Berechnungsfolge werden die Punkte gewichtet. Aus den gewichteten Punkten wird ein Gesamtpunktwert errechnet, der maximal 100 beträgt.


Wochenblatt: Von welchen Lebens­bereichen ist denn die Rede?

Riering: Beurteilt wird, wie beweglich und mobil ein Mensch in seinem häuslichen Umfeld ist. Die Gutachter erfassen auch, wie eine Person im Alltag zurechtkommt, also wie ihre geistigen und kommunikativen Fähigkeiten sind. Gleichzeitig wird beurteilt, welche Verhaltensweisen ein Mensch an den Tag legt, die eine Pflege be­einträchtigen. Die Gutachter beurteilen vor allem aber, wie selbstständig sich ein Mensch selbst versorgen, sprich waschen, ankleiden, essen und trinken kann. Ein weiterer Bereich erfasst, wie aufwendig und belastend der Umgang mit Krankheit und Therapie ist. Und nicht zuletzt geht es darum, ob ein Mensch sein alltägliches Leben noch selbst gestalten und soziale Kontakte pflegen kann.

Wochenblatt: Wie wird denn der Grad der Selbstständigkeit in den genannten Bereichen beurteilt?

Riering: In jedem der genannten Lebensbereiche werden mehrere Kriterien beurteilt (siehe Über-­
sicht 3). Diese werden mit Punkten von 0 für selbstständig bis 3 für unselbstständig bewertet. Je höher die Punktzahl, desto schwerwiegender ist die Person beeinträchtigt. Als selbstständig gilt eine Person, die die Aktivitäten in der Regel selbstständig durchführen kann. Dabei ist nicht entscheidend, ob dies nur erschwert oder verlangsamt oder nur mit Unterstützung von Hilfsmitteln möglich ist. Wichtig ist, dass (noch) keine personelle Hilfe benötigt wird.

Mit einem Punkt werden Aktivitäten bewertet, die die Person überwiegend selbstständig ausführen kann und dabei lediglich Hilfestellungen benötigt. Das lässt sich am Beispiel „Körperhygiene“ aus dem Bereich „Selbstversorgung“ gut erklären. Als Hilfestellung gilt, wenn das Duschgel nicht mehr von der Ablage am Waschbecken genommen werden kann, sondern direkt in die Hand gegeben werden muss. Unter Hilfestellung ist auch zu verstehen, wenn eine Pflegeperson immer wieder auffordern muss, sich zu waschen.

Auch kann es sein, dass eine Pflegeperson verschiedene Optionen zur Auswahl anbieten muss, wie verschiedene Shampoos, damit der Pflegebedürftige eine Entscheidung finden kann, um sich dann beispielsweise die Haare selbstständig zu waschen. Oder aber eine partielle Beaufsichtigung und Kontrolle ist notwendig, damit der Mensch die Handlung korrekt und sicher durchführen kann. Will heißen, dass er beispielsweise die Haare nach dem Shampoonieren auch wieder auswäscht und dafür warmes Wasser verwendet und kein heißes.

Als überwiegend unselbstständig gilt, wenn ein Mensch eine Aktivität nur zu einem geringen Anteil selbstständig durchführen, aber sich noch beteiligen kann. Es bedarf dann einer weitergehenden Unterstützung wie motivierender Begleitung. Das kann insbesondere bei psychischen Erkrankungen nötig sein, die mit vermindertem Antrieb einhergehen.

Es kann auch erforderlich sein, dass eine Pflegeperson den Handlungsablauf, beispielsweise das Gesicht waschen, einmal demonstriert oder lenkend begleiten muss, um einen sinnvollen Ablauf zu gewährleisten. Als überwiegend unselbstständig gilt ein Mensch auch, wenn er ständig beaufsichtigt und kontrolliert werden muss oder eine Pflegeperson einen erheblichen Teil der Handlungsschritte übernehmen muss.

Unselbstständig ist ein Mensch, wenn Motivation, Anleitung und ständige Beaufsichtigung auf keinen Fall ausreichen und eine Pflegeperson nahezu alle Teilhandlungen übernehmen muss.

Wochenblatt: Wie wird nun der Pflegegrad berechnet?

Riering: In jedem der sechs Lebensbereiche werden Punkte für einzelne Kriterien vergeben. Diese Punkte werden zusammengezählt. Die Punkte werden nun in eine weitere fünfstufige Skala übertragen. Diese bewertet die Beeinträchtigung der Selbstständigkeit bzw. Fähigkeiten abermals neu in: keine Beeinträchtigung, geringe, erhebliche, schwere und schwerste Beeinträchtigung. Im nächsten Schritt gewichtet der Gutachter nach einem vorgegebenen Verfahren den Punktewert für den Pflegegrad. Eine Pflegebedürftigkeit liegt vor, wenn ein Gesamtpunktwert von mindestens 12,5 Punkten erreicht wird.


Wochenblatt: Was hat sich sonst noch durch das Pflegestärkungsgesetz geändert?

Riering: Menschen, die bereits 2016 Pflegeleistungen bezogen haben, werden jetzt automatisch in einen der neuen Pflegegrade eingestuft. Pflegebedürftige, die ausschließlich körperlich beeinträchtigt sind, erhalten anstelle der bisherigen Pflegestufe den nächsthöheren Pflegegrad. Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz – etwa durch Demenz – werden automatisch zwei Grade höher eingestuft.

Außerdem müssen Heimbewohner der Pflegegrade 2 bis 5 jetzt einen vom Pflegegrad unabhängigen einrichtungseinheitlichen Eigenanteil an den pflegebedingten Kosten tragen. Der Anteil steigt nicht, auch wenn die Pflegebedürftigkeit zunimmt. Der Eigenanteil wird im Rahmen der Vergütungsvereinbarung mit den Kostenträgern individuell verhandelt. Daneben müssen Heimbewohner, wie schon vorher auch, die Kosten für Unterkunft, Verpflegung und Investitionen tragen. LHo