Mit Anfang 70 baut Wilhelm (*) den ersten Auffahrunfall. Danach fällt er immer wieder im Straßenverkehr auf. Mit Ende 70 fährt er den Außenspiegel eines entgegenkommenden Autos ab, weil er mitten auf der Straße fährt. Er behauptet, ausreichend rechts gefahren zu sein. „Es war nie seine Schuld, wenn es nach ihm ging“, erinnerte sich seine heute 80-jährige Frau Hildegard (*). Als sie am Steuer sitzt und ihn an einer Kreuzung fragt, ob von rechts ein Auto komme, verneint er. Nur knapp schrammen sie damals an einem Unfall vorbei. Die Entfernung anderer Autos konnte Wilhelm nicht mehr einschätzen.
Schwächen kompensieren
Annette Paulus kennt die Schwächen vieler älterer Fahrer. Sie ist unter anderem Fahreignungsberaterin, Seniorentrainerin und ausgebildete Moderatorin für „Sicher mobil“-Veranstaltungen in Enger, Kreis Herford. Probleme bereiten vielen Senioren nicht nur das Spurhalten, sondern besonders das Linksabbiegen sowie das Ein- und Ausparken. Auch an unübersichtlichen Kreuzungen sind sie oft überfordert, da komplexes Sehen und Wahrnehmen verlangt werden.
Im Jahr 2019 gaben immerhin bundesweit 36 000 Menschen ihre Fahrerlaubnis freiwillig ab, davon waren 16 500 älter als 64 Jahre. Doch Annette Paulus kann jeden gut verstehen, der an seinem Führerschein hängt. Ziel ihrer Arbeit ist es, dass die Menschen möglichst lange mobil bleiben. „Viele Defizite, die im Alter auftreten, lassen sich kompensieren. Dann fahre ich eben nicht in der Dämmerung oder zu Stoßzeiten.“ Reaktionsvermögen und Gedächtnis ließen sich mit Computerprogrammen trainieren. Auch moderne Fahrzeugtechnik kann helfen, beispielsweise Spurhaltesysteme oder Notbremsassistenten. Sensoren und Kameras erleichtern das Einparken – vorausgesetzt, der Fahrer kann mit ihnen umgehen und wird nicht nur zusätzlich nervös. Eine erhöhte Sitzposition und Automatikgetriebe seien ebenfalls hilfreich, um sich besser auf den Verkehr konzentrieren zu können.
„Mein Motto lautet: Nicht jeder muss alles können. Die Frage ist, was kann ich verantworten? Wenn ich unsicher auf Autobahnen bin und sie daher meide, ist die Gefahr damit gebannt.“
Das Auto stehen lassen
Mit ihren Angeboten erreicht Annette Paulus in der Regel nur Menschen, die bereits kritisch über ihre eigenen Fahrfähigkeiten nachdenken. „Das sind deutlich mehr Frauen als Männer“, weiß sie. Das zeigte sich auch im Fall von Wilhelm und Hildegard. Während er sein waghalsiges Fahrverhalten nicht eingestand, ließ sie das Auto ab Mitte 70 immer öfter stehen. Das Ehepaar wohnte damals noch mit ihrem Sohn und dessen Familie auf einer ehemaligen Hofstelle mitten in einer kleinen Ortschaft. Der Lebensmitteleinkauf ließ sich dort auch ohne Auto bewerkstelligen. Hildegard fuhr nur noch bekannte Strecken im Umkreis von knapp 10 km. Die Autobahn mied sie ganz. „Lange Autostrecken wurden anstrengender, meine Aufmerksamkeit hatte nachgelassen“ erinnert sie sich. Die steifen Knochen machten das Ein- und Aussteigen auch nicht einfacher.
Brenzlige Situationen im Verkehr hat es nicht gegeben. Solange hat sie nicht gewartet. „Ich muss doch wohl so viel Verstand besitzen, dass ich nicht mehr fahre, wenn ich nicht mehr sicher bin“, meint Hildegard. Ihr Auto gab sie schließlich ihrem Enkel. Sie schaffte sich stattdessen ein Elektromobil an.
Unfallschuld bei Senioren
54 % der deutschen Bevölkerung sprechen sich für verpflichtende Fahreignungstests für Autofahrer ab 75 Jahren aus. Das ergab eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Deutschen Verkehrssicherheitsrats. In der Altersgruppe ab 65 Jahren stößt der Vorschlag erwartungsgemäß auf weniger Zustimmung. Doch die Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen auch: Bei Unfällen, an denen Autofahrer ab 65 Jahren beteiligt sind, tragen diese meist die Hauptschuld. Bei Fahrern ab 75 Jahren ist dies sogar in 3 von 4 Fällen so.
Häufig missachten die Senioren Vorfahrtsregeln oder verhalten sich falsch beim Abbiegen, Wenden, Rückwärtsfahren sowie beim Ein- oder Ausfahren. An dieser Stelle sei allerdings auch erwähnt, dass ihnen im Vergleich zu jüngeren Fahrern seltener ein geringer Abstand, eine zu hohe Geschwindigkeit oder das Fahren unter Alkoholeinfluss angekreidet wird.
„Medizinischer TÜV“
Zu den Befürwortern eines verpflichtenden Tests gehört auch Dr. med. Mathias Bieberbach. Seit mehr als 20 Jahren praktiziert der Verkehrsmediziner in Hannover und untersucht LKW-, Taxi- und Bus-Fahrer auf ihre Fahreignung. Nach den Richtlinien der Fahrerlaubnisverordnung sind diese nämlich verpflichtet, sich alle fünf Jahre untersuchen zu lassen. Dazu gehört, einen Fragebogen auszufüllen, Blutdruck und Zuckerwerte messen und die Augen überprüfen zu lassen. „Wenn ich meine Erfahrungen auf die gesamte Fahrernation hochrechne, mag ich mir gar nicht ausmalen, wie viele Fahrer etwa mit Seh- oder Reaktionsschwächen auf den Straßen unterwegs sind.“
Einen regelmäßigen „medizinischen TÜV“ alle fünf Jahre hält er für sinnvoll. Eine der größten Unfallrisiken seien schließlich gesundheitliche Einschränkungen. Und die nähmen gewöhnlich zu, je älter man wird. Der Verkehrsmediziner schlägt daher vor, der Dringlichkeit halber mit den Autofahrern über 70 anzufangen. Nach und nach könnte man die Schwelle bis auf 50 senken. „Es geht mir keineswegs darum, ältere Autofahrer zu diskriminieren. Es geht mir darum, die Zahl der Unfälle zu reduzieren.“ Eine verpflichtende Untersuchung für alle Autofahrer ab einem bestimmten Alter sieht er nicht als Zensur, sondern als groß angelegte Früherkennungsuntersuchung.
Nun gilt es zu unterscheiden zwischen einer medizinischen Fahreignungs-Untersuchung und einer Fahrprüfung. Die Verpflichtung für Autofahrer, Gehör und Sehkraft sowie die Versorgung mit Brillen und Hörgeräten ab einem gewissen Alter untersuchen zu lassen, hält auch Hildegard für denkbar. „Den Zeitpunkt dafür sollte der Hausarzt festlegen“, meint sie. Prämien statt Pflicht? Eine gesetzlich vorgeschriebene Fahrprüfung etwa ab 75 lehnt Hildegard ab. „Der Staat nimmt einem damit die letzte Würde“. Wer im Außenbereich wohne und auf ein Auto angewiesen sei, solle bekannte und kurze Strecken noch fahren dürfen. Doch sie räumt ein: „Wer lange nicht hinterm Steuer saß, der sollte ruhig nochmal Fahrstunden nehmen, um fit zu werden.“
Kalendarisches und biologisches Alter
Von verpflichtenden Fahreignungsuntersuchungen im Alter hält Annette Paulus wenig. „Das wäre diskriminierend. Und das kalendarische Alter sagt nicht unbedingt etwas über das biologische Alter aus.“ Stattdessen setzt sich die ausgebildete Fahrlehrerin für ein Bonussystem bei den Krankenkassen ein. Prämien könnten Fahrern einen Anreiz bieten, entsprechende Kurse zu besuchen oder Rückmeldefahrten durchzuführen. Bisher hatte sie damit bei den Kassen keinen Erfolg.
In ihrer über 10-jährigen Laufbahn als Fahreignungsberaterin hat Annette Paulus erst in zwei Fällen dazu geraten, sich nicht mehr hinters Lenkrad zu setzen. Ob sich die Betroffenen an ihren Rat halten, bleibt ihnen überlassen. Die Ergebnisse sowohl der Tests als auch der Rückmeldefahrten bleiben in jedem Fall vertraulich. „Ich bin nicht der verlängerte Arm irgendeiner Behörde, die Ergebnisse gebe ich nicht weiter,“ versichert sie.
Die Hemmschwelle bei dem Thema ist dennoch groß. Ganz bewusst finden ihre Kurse im örtlichen diakonischen Café statt und nicht in der Fahrschule. „Einige befürchten sonst, es könnte Gerede geben: Der geht in die Fahrschule? Da könnte ja was nicht stimmen.“ Häufig hat sie es mit besorgten Angehörigen zu tun, die bei den Senioren auf taube Ohren stoßen. Die Fälle von Altersstarrsinn kennt sie daher gut. Doch wann sollten ältere Fahrer tatsächlich über eine Überprüfung ihrer Fahreignung nachdenken? „Sobald Angehörige einen auf das Thema ansprechen, sollte man etwas unternehmen. Das ist von den Kindern schließlich nicht böse gemeint.“
Auch bei Wilhelm wurde die Familie schließlich aktiv. Seine Kinder zogen gemeinsam an einem Strang und konnten ihren Vater tatsächlich überzeugen, das Auto stehen zu lassen. Erst später wird bei ihm eine Demenz festgestellt, die sein Fahrverhalten erklären könnte.
* Name von der Redaktion geändert