Mit einem freundlichen „Hallo!“ kommt Martin Schüth von Nachbarhof um die Ecke auf mich zu. Rotes T-Shirt, Arbeitshose, ein Cappy auf dem Kopf. Er hinkt und das linke Handgelenk steckt in einer Orthese. Aber er kann laufen und er kann sprechen. Das war nicht immer so.
Wir setzen uns auf die Terrasse auf seinem Hof in Büren-Siddinghausen, Kreis Paderborn. Hier erzählt mir der heute 36-Jährige, wie sein Leben von einen Tag auf den anderen auf dramatische Weise auf den Kopf gestellt wurde. Und fast immer lächelt er dabei.
Nach der Ausbildung nach Australien
Es ist das Jahr 2006. Martin Schüth hat die landwirtschaftliche Ausbildung abgeschlossen und keinen konkreten Plan, was er in Zukunft machen möchte. Nur eines steht fest: Er will reisen. Kurzentschlossen bucht er ein Ticket und fliegt nach Australien. Er hofft, dort in der Milcherzeugung arbeiten zu können und das Land kennenzulernen.
Zunächst landet er in Melbourne, dann in Shepparton. Dort bekommt er den Tipp, nach Mooroopna zu fahren. Hier findet er einen Milchviehbetrieb, der Hilfe gebrauchen kann. Er arbeitet einen Tag zur Probe, am nächsten Tag soll es richtig losgehen. Aber dazu kommt es nicht mehr.
Schwere Kopfverletzungen nach Überfall
Noch am selben Abend, dem 13. September, wird Martin Schüth von drei Aborigines zusammengeschlagen. Er selbst hat keine Erinnerung an den Überfall. Auch weiß er bis heute nicht, warum die drei Männer ihn angegriffen haben. Bei dem Übergriff erleidet der junge Mann schwere Kopfverletzungen. Er hat eine Hirnblutung und ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Etwa sechs Wochen lang liegt er im Koma.
Weil er seine Papiere bei sich hatte, kann seine Familie recht schnell verständigt werden. Zusammen mit Martins damaliger Freundin reist seine Mutter zu ihm, ungewiss, was sie erwartet. In den ersten Tagen besteht Lebensgefahr, denn zu allem Überfluss kommt eine Lungenentzündung dazu. Er übersteht die Infektion, sein Zustand ist stabil, mehr aber nicht.
Sieben Monate kein Wort
Als er aus dem Koma aufwacht, spricht er nicht. Sieben lange Monate lang. Durch die Hirnblutung sind das Sprachzentrum wie auch die rechte Körperhälfte stark beeinträchtigt. Die behandelnde Ärztin beruhigt die Angehörigen: „Es dauert, aber er kommt wieder auf die Füße.“
Mitte November wird Martin nach Deutschland überführt. Er kommt zur Reha nach Bad Oeynhausen. Dort sind die Ärzte weniger zuversichtlich. Sie raten den Eltern, ihn in einem Pflegeheim für junge Menschen unterzubringen.
Das aber lässt Martins Mutter nicht zu. Sie besteht darauf, dass ihr Sohn in eine Reha-Einrichtung nach Bad Wünnenberg verlegt wird. Dort wird die Behandlung schließlich fortgesetzt.
Schwerer Kampf zurück ins Leben
Martin Schüth jedoch verlässt mehr und mehr der Mut. „Ich hatte Selbstmordgedanken“, erinnert er sich, und für einen Moment verschwindet das Strahlen aus seinen Augen. Dass er doch noch die Kurve kriegt, verdankt er einer Therapeutin. Sie redet Klartext mit ihrem Patienten: „Entweder stehst du jetzt auf, oder du stirbst“, sagt sie ihm. Das wirkt.
Martin beginnt zu kämpfen. Er hat jetzt ein Ziel: Er will raus aus dem Rollstuhl! Allerdings ist seine Achillessehne bei dem Überfall so stark verletzt worden, dass das zunächst nicht geht. Dennoch kämpft sich der junge Mann Schritt für Schritt ins Leben zurück. Und er spricht wieder. „Mama“, ist das erste Wort, das er sagt.
Am 20. Juli 2007 darf er endlich nach Hause. Dort beginnt für ihn und seine Eltern ein neues Leben. Größtes Hindernis ist für Martin Schüth der Rollstuhl, den er inzwischen regelrecht hasst. Doch dauert es noch etwa fünf Jahre, bis er durch eine Operation an der Achillessehne endlich wieder gehen kann. In der Zwischenzeit erkämpft er sich durch Physio-, Logo- und Ergotherapie Stück für Stück sein Leben zurück. Seine Dickköpfigkeit kommt ihm dabei zugute. „Wenn er nicht so viel Energie hätte, dann hätte er das nicht geschafft“, ist seine Mutter überzeugt. Doch er schafft es, lernt wieder sprechen und schließlich auch laufen. Heute kann er sich weitgehend allein versorgen.
Nach zehn Jahren zurück nach Australien
In all der Zeit hat Martin Schüth sein Vorhaben, nach Australien zurückzukehren, nicht aus den Augen verloren. Er will unbedingt zurück an den Ort, an dem sich sein Leben mit einem Schlag veränderte. 2016 ist es soweit: Er bucht ein Ticket und fliegt zurück nach Australien – allein.
Dieser Besuch ist sehr schwer für ihn. „Aber ich brauchte das, um damit abzuschließen“, sagt er. Wie wichtig diese Reise für Martin ist, bemerkt seine Mutter erst nach seiner Rückkehr. „Er war danach ganz anders als vorher, viel ruhiger“, sagt sie.
In Australien versucht Martin Schüth, mit den Tätern in Kontakt zu treten. Er hofft, sich wieder an die Geschehnisse erinnern zu können, wenn er die Männer mit eigenen Augen sieht. Doch bürokratische Hürden machen das unmöglich. Alle drei Täter sind gefasst und zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Wut auf die Männer empfindet Martin Schüth nicht. „Ich habe ihnen vergeben. Sonst könnte ich nicht in Ruhe leben“, sagt er.
Familie und Freunde geben Kraft
Das kann er heute. Er steht jeden Morgen um sechs Uhr auf, macht Frühstück und liest die Zeitung. Und dann geht er. Jeden Tag wandert er durch die bergige Umgebung von Siddinghausen, meistens sieben bis acht Kilometer, manchmal bis zu 20 km. Zum Glück hat er gute Freunde, die zu ihm stehen. Und er hat seine Familie. „Ohne sie hätte ich es nicht geschafft“, ist er überzeugt.
Im Jahr 2018 fliegt Martin Schüth erneut nach Australien. Dieses Mal überlegt er sogar, dort zu bleiben. Zu hoch sind jedoch die Auflagen der Einwanderungsbehörde.
Das Leben annehmen, wie es ist
Also kehrt er zurück nach Siddinghausen, wo er nach dem Tod seines Vaters zusammen mit seiner Mutter auf dem landwirtschaftlichen Betrieb lebt, der schon seit vielen Jahren verpachtet ist. Dank der Pachteinnahmen und der Erwerbsunfähigkeitsrente ist der gelernte Landwirt finanziell abgesichert. „Ich bin zufrieden mit meinem Leben“, sagt er und es klingt ehrlich. Mitleid möchte er nicht. Wichtiger ist es ihm, anderen Mut zu machen. Mut, das Leben so anzunehmen, wie es ist. Wenn er Menschen in schwierigen Lebenslagen einen Rat geben soll, dann diesen: „Nicht aufgeben!“