Hausaufgaben hat Hannes* nie gemacht. Seine Eltern Manuela* und Holger Rüther* haben alles versucht. „Einmal hat er drei Stunden am Tisch gesessen und uns angegrinst. Seine Hausaufgaben hat er nicht angerührt“, erinnert sich die Mutter. Hinzu kamen Wutanfälle. Für die Familie eine sehr belastende Situation. Dass der damals Siebenjährige am Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) leidet, wusste die Landfrau nicht.
Täglicher Kampf um Kleinigkeiten
Ähnlich erging es Vera Bergmann aus Bocholt. Die Söhne Ben* und Max*, heute zehn und zwölf Jahre alt, sind schon vom Säuglingsalter an unruhig, schnell frustriert und unaufmerksam. Sie zu einfachen Tätigkeiten wie Zähneputzen zu bewegen, ist für die Eltern ein täglicher Kampf. Die Jungs sind wissbegierig und kreativ. „Doch die Anforderungen der Grundschule und besonders die Hausaufgaben haben aus ihnen zwei wütende Kinder mit starken Selbstzweifeln gemacht“, sagt ihre Mutter. „Während Max über Tische und Bänke geht, bricht Ben förmlich zusammen. Er schläft sogar im Unterricht ein“, erzählt sie. Was die Bergmanns zu der Zeit nicht wissen: Ben hat ADS, sein Bruder ADHS.
Nur drei Minuten Konzentration
Bei den Rüthers wird die Situation unerträglich. Neben Hannes fordert seine Schwester, damals ein Säugling, die Mutter. „Ich war völlig fertig“, erklärt sie. In ihrer Not sucht die Familie einen Kinder- und Jugendpsychologen auf. Untersuchungen zeigen, dass Hannes’ Konzentrationsfähigkeit nur bei drei bis vier Minuten liegt. Der Psychologe macht einen Test: Hannes soll Aufgaben lösen, einmal mit und einmal ohne den Wirkstoff Methylphenidat. „Mit dem Medikament war es viel besser“, sagt seine Mutter.
Per Zufall hört sie von der Tagesklinik an einer jugendpsychiatrischen Einrichtung. Inzwischen ist der Leidensdruck bei Hannes so groß, dass er bereit ist für eine Einweisung. Vier Monate lang besucht er die Tagesklinik. Hier wird er medikamentös eingestellt, erhält Therapien und Unterricht. „Wenn er nach Hause kam, war er total ausgeglichen“, sagt Manuela Rüther.
Methylphenidat in der Kritik
Der Wirkstoff Methylphenidat ist umstritten. Es gibt beispielsweise Hinweise darauf, dass er bei Kindern und Jugendlichen in den Hirnstoffwechsel eingreift. Dr. Ralph Meyers erklärt dazu, dass die Weiterentwicklung des Gehirns Ziel der Therapie sei. Das lasse sich durch bildgebenden Verfahren überprüfen.
Mögliche Nebenwirkung des Medikaments ist vor allem Appetitmangel während der Wirkzeit. Sollte es zu weiteren Nebenwirkungen kommen wie Kopfschmerzen oder Schwindel wäre das eine Folge falscher Dosierung, sagt Dr. Meyers. Methylphenidat sollte nur nach umfangreicher Diagnose und Verschreibung durch einen Facharzt eingenommen werden. Die Dosis muss regelmäßig überwacht und angepasst werden.
Die Schule verweigert
Bei Ben Bergmann spitzt sich die Situation zu, als er in der dritten Klasse ist. „Er wollte nicht mehr zur Schule“, erzählt seine Mutter. Freunde hatte er kaum. Es gab Tage, an denen er sagte, er sei lieber tot.
Die Eltern wenden sich an das Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) in Bocholt. Tests zeigen, dass Ben überdurchschnittlich intelligent ist. Sein Gedächtnis und die Arbeitsgeschwindigkeit sind jedoch weit unterdurchschnittlich. Als sich die Lage im Corona-bedingten Homeschooling verschärft, entscheiden sich die Eltern, den Wirkstoff Methylphenidat, den sie vorher strikt abgelehnt hatten, zu testen. Mit Erfolg: Der Junge kann sich damit auf seine Aufgaben konzentrieren.
Als sein Bruder Max in die dritte Klasse kommt, will auch er nicht mehr in die Schule. Das Stillsitzen quält ihn, Rechtschreibung und Lesen fallen ihm schwer. Das SPZ stellt bei ihm ADHS fest.
Den Tag, als Max zum ersten Mal Methylphenidat bekommt, wird seine Mutter nie vergessen. „Er ist auf seinem Zimmer verschwunden. Einige Stunden später kam er heraus und rief freudestrahlend: ,70 Seiten gelesen. So kann das ja jeder! Die Buchstaben verrutschen gar nicht mehr!‘“
Beide Jungs werden medikamentös eingestellt. Das Methylphenidat wirkt etwa acht Stunden, also nur für die Schulzeit. Nachmittags sind die alten Probleme noch da. Damit aber kann die Familie leben.
Großeltern mit einbeziehen
Das Medikament allein kann aber nicht alle Probleme lösen. Gute Erfahrungen hat Familie Rüther mit dem ganzheitlichen Ansatz der Tagesklinik gemacht. Hier gab es nicht nur Gespräche mit den Eltern, sondern auch die Großeltern, die mit auf dem Hof leben, wurden mit einbezogen. Vorher hatte es immer wieder Spannungen wegen Hannes’ Erziehung gegeben. Nun aber sind die Großeltern bereit, mit den Eltern an einem Strang zu ziehen. „Das war wie ein dicker Kloß, der sich gelöst hat“, erinnert sich Manuela Rüther.
Nach dem Aufenthalt in der Tagesklinik verbessert sich die Situation in der Familie. Etwa anderthalb Jahre später entscheidet sich Hannes, das Methylphenidat mehr und mehr abzusetzen. Inzwischen ist er 17 Jahre und hat sein Leben ganz gut im Griff.
{{::tip::standard::Hier gibt es Hilfe
Erster Ansprechpartner beim Verdacht auf eine Aufmerksamkeitsstörung ist der Kinderarzt. Auch sozialpädiatrische Zentren oder Schulsozialarbeiter bieten Unterstützung. Informationen rund um AD(H)S, die Symptome, Diagnosemöglichkeiten und Therapieoptionen sowie Kontakte zu AD(H)S-Netzwerken und Selbsthilfegruppen sind auf folgenden Internetseiten zu finden:
www.adhs-info.de
www.adhs.deutschland.de::}}
Den Alltag an die Bedürfnisse anpassen
Um ihre Söhne zu unterstützen, passt Vera Bergmann den Familienalltag so gut es geht an die besonderen Bedürfnisse an. Sie meidet zum Beispiel Situationen, in denen die Kinder vielen Reizen ausgesetzt sind. Die Kinderzimmer sind so eingerichtet, dass die Jungs dort zur Ruhe kommen können.
Von ihrem Umfeld hätte sich Vera Bergmann mehr Verständnis gewünscht. Oft hat sie zu hören bekommen: „Du musst konsequenter sein.“ Spätestens als sie sich für die medikamentöse Therapie entschieden hat, war das Verständnis ganz weg. „Ihr macht es euch aber leicht“, wurde ihr vorgeworfen.
Umso mehr ist sie erleichtert, dass die Jungs offen mit ihrer AD(H)S umgehen. Sie sehen die Diagnose nicht als Krankheit, sondern als Besonderheit. Schließlich hatten viele Entdecker und Künstler AD(H)S. Sie wissen: Sie sind nicht dumm oder krank, sondern nur ein wenig anders.
Sich dem Problem stellen
Ein schlechtes Gewissen, weil sie ihrem Sohn Methylphenidat gibt, hat auch Manuela Rüther nicht. Dabei ist ihr durchaus bewusst, dass Medikamente mit diesem Wirkstoff nicht allein die Lösung und durchaus nicht bei jedem Kind mit AD(H)S sinnvoll sind. Wichtig sei aber, sich dem Problem zu stellen und dem Kind bestmöglich zu helfen. „Wir wären schlechte Eltern, wenn wir nichts gemacht hätten“, sagt sie.
*Namen geändert
Wenn der Filter im Kopf fehlt
Fachleute bezeichnen AD(H)S als eine Störung, nicht als Krankheit. Diese sollte nur behandelt werden, wenn ein Leidensdruck besteht.
Auf den Menschen wirkt ständig eine Fülle von Reizen und Informationen ein. Mit zunehmendem Alter lernt das Gehirn, daraus das herauszufiltern, was relevant ist. Bei Menschen mit AD(H)S hat das Gehirn diese Filterfähigkeit nicht ausreichend erlernt, erklärt Dr. Ralph Meyers, Kinder- und Jugendpsychiater aus Dorsten.
AD(H)S lässt sich etwa ab einem Alter von drei Jahren diagnostizieren.
Bestandteile der Diagnose können psychiatrische, neurologische und körperliche Untersuchungen, psychologische Tests sowie Selbst- und Fremdeinschätzungs-Fragebögen sein. Wichtig ist, zuerst körperliche Ursachen auszuschließen. Denn eine Aufmerksamkeitsstörung kann Begleiterscheinung einer anderen Krankheit sein.
Häufig Mischformen
Bei der Aufmerksamkeitsstörung wird zwischen zwei Formen unterschieden: ADS, also die Aufmerksamkeitsdefizit-Störung, und ADHS, das ist eine Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität. Kinder mit ADS sind eher Träumer mit einer sehr flüchtigen Aufmerksamkeitsfähigkeit. Bei ADHS stehen die Impulsivität und der Bewegungsdrang im Vordergrund. Bei etwa der Hälfte der Betroffenen handelt es sich um Mischformen.
Ursache für die Störung sind Defizite in der Kommunikation der Nervenzellen und bestimmter Botenstoffe, wie Dopamin, Noradrenalin und Serotonin. In etwa 50 % der Fälle liegt eine genetische Disposition vor. „Begünstigt wird sie durch Störfaktoren, zum Beispiel einen schwierigen Schwangerschafts- und Geburtsverlauf oder ein Hirntrauma“, sagt Dr. Ralph Meyers. Ungünstige Lebensbedingungen aufgrund sozialer oder familiärer Probleme können die Symptome verstärken, kommen aber nicht als alleinige Ursache in Frage.
Wenn AD(H)S diagnostiziert wird, heißt das nicht zwangsläufig, dass die Störung behandelt werden muss. Denn sie hat auch Vorteile. Betroffene sind oft besonders kreativ, energiegeladen und spontan. „Wir möchten denjenigen helfen, die einen Leidensdruck haben“, erklärt Dr. Meyers.
Bei der Therapie sollte an erster Stelle die Aufklärung der Betroffenen sowie der Eltern und dem direkten Umfeld stehen. Zweiter Baustein sind körperliche Behandlungsformen, wie Motopädie, Ergotherapie, Krankengymnastik oder Sprachtherapie. Erst als dritten Baustein nennt Dr. Meyers die medikamentöse Intervention. Er betont aber, dass Medikamente in vielen Fällen nicht nötig sind.
Zum Einsatz kommen neben dem bekannten Wirkstoff Methylphenidat auch andere Medikamente aus der Schulmedizin. „Gute Erfahrungen habe ich mit Homöopathie und pflanzlicher Medizin gemacht“, sagt Dr. Meyers. Immer müsse aber regelmäßig überprüft werden, ob die gewählte Behandlung effektiv ist. „Wenn sich keine Besserung zeigt, ist es die falsche Therapie."
Das richtige Mittel finden
Welches Medikament das Richtige ist, hängt von den Symptomen ab. Die Wirkstoffe setzten bei unterschiedlichen Botenstoffen an. Je nachdem, welcher Botenstoff besonders beeinträchtigt ist, zeigen sich spezifischen Symptome. Bei den Träumern ist es vor allem das Dopamin, hier ist mit Methylphenidat häufig ein guter Effekt zu erzielen. Bei den hyperaktiven Typen ist der Botenstoff Noradrenalin beeinträchtigt. In dem Fall ist eher ein Amphetamin-Präparat angezeigt.
Keine Dauertherapie
Etwa bei 50 % seiner AD(H)S-Patienten setzt Dr. Ralph Meyers eine medikamentöse Therapie ein. In einigen Fällen dient sie aber nur als Türöffner, um die Patienten empfänglich für andere Therapieformen zu machen. Denn dafür benötigen sie eine gewisse Konzentrationsfähigkeit.
Ziel der medikamentösen Therapie soll nach Ansicht des Experten sein, dass der Patient nach und nach immer weniger davon braucht und irgendwann ganz ohne auskommt. Das Medikament soll dem Gehirn helfen zu lernen, aus den vielen Eindrücken die wichtigen herauszufiltern. Wenn das gelingt, wird das Medikament überflüssig.