Sind Sie in den vergangenen Wochen montagabends mal spazieren gegangen? Noch vor ein paar Monaten hätten viele Menschen achselzuckend mit „Nein“ geantwortet und sich über die Frage gewundert. Heute hört man oft ein empörtes „Nein“. Denn der Begriff des Spaziergangs ist durch unangemeldete Demonstrationen in Verruf geraten. Ich war am Montag der vorvergangenen Woche in Münster bei einem angemeldeten Spaziergang dabei, um mir ein eigenes Bild zu machen, wer dort gegen oder für was demonstriert.
Trillerpfeifen gegen Nazis
Als ich am Rathaus vorbeigehe, fällt mir eine Kundgebung auf. Der Mann am Mikrofon spricht davon, dass bei einem der vergangenen Spaziergänge ein Hitlergruß gezeigt sowie eine Armbinde mit Judenstern getragen wurde.
Ich laufe weiter in Richtung Domplatz. Dort starten die Spaziergänge. Doch bevor ich auf die gut 1000 Demonstranten treffe, fällt mir eine weitere Gruppe auf. Viele von ihnen tragen Fahnen, die auf die antifaschistische Szene hinweisen. Wenn sie nicht mit ihren Trillerpfeifen großen Lärm machen, rufen sie im Chor „Nazis raus“ oder „Schwurbler verpisst euch, keiner vermisst euch.“ Polizisten haben sich als Mauer vor der lautstarken Gruppe aufgebaut.
Auf dem großen Platz stehen Menschen, die sich Lichterketten umgehängt haben. Einige tragen Schilder in der Hand, auf denen „Für eine freie Impfentscheidung“ oder auch „Gegen Nazis“ steht. Jeder Anwesende darf zum Mikrofon greifen und seine Meinung kundtun. Teilweise gibt es Applaus. Einer der Veranstalter richtet ein paar Worte an die Anwesenden. Neben Corona spricht er auch über steigende Energiekosten und die Ukraine-Krise.
Masken und Lichterketten
Mit Verspätung setzt sich die Menge in Bewegung. Aus einem Lautsprecher klingt Musik. Es sind Lieder, die die Freiheit besingen. Denn viele Spaziergänger gehen laut eigener Aussage für Freiheit und eine freie Impfentscheidung auf die Straße. Sie wollen für und nicht gegen etwas sein. Ich komme mit einer Dame mittleren Alters ins Gespräch. Sie arbeitet in der Justiz. Nazis und antisemitische Parolen hat sie bei keinem Spaziergang wahrgenommen, obwohl sie seit November regelmäßig mitgeht.
Einige Spaziergänger tragen nicht die vorgeschriebene Maske. Das Ordnungsamt notiert, begleitet von Polizisten, ihre Personalien. Unter den Demonstranten entdecke ich zwei Frauen, die außer Masken auch OP-Kittel tragen: Annika und Hilde. Beide sind im Gesundheitsbereich tätig und unterliegen ab Mitte März der Impfpflicht. Doch sie haben Sorgen bezüglich der Sicherheit der Impfstoffe. „Mit dem Totimpfstoff würde ich mich impfen lassen“, sagt Annika. Hilde nickt bestätigend. Doch noch fehlt für die Zulassung die Zustimmung der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA).
Annikas Eltern, beide ausgebildete Physiotherapeuten, sind in die Schweiz ausgewandert. Sie hatten schon früher über eine Emigration nachgedacht, den Ausschlag gab aber laut ihrer Tochter die aktuelle politische Entwicklung. Annika erzählt mir, dass sie Rückhalt von ihrer Chefin erfährt. Die würde es zwar lieber sehen, wenn ihre Mitarbeiterin geimpft wäre und könne auch ihre Gründe nicht nachvollziehen, akzeptiere aber ihre Entscheidung.
Gespräch mit der Antifa
Laute Trillerpfeifen machen eine Unterhaltung unmöglich. Die Polizeipräsenz am Straßenrand kündigt an, dass sich dort Gegendemonstranten aufhalten. Eine Gruppe von etwa zehn Leuten steht am Straßenrand, schwenkt ihre Fahnen und ruft die Anti-Nazi-Parolen, die schon am Domplatz zu hören waren. Ich löse mich aus der Menschenmenge und gehe auf den jungen Mann mit der weiß-blau gestreiften Flagge und dem roten Dreieck, dem Zeichen der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“, zu.
Er wirkt verunsichert, genau wie die umstehenden Polizisten. Ich gebe mich als Redakteurin zu erkennen. Der junge Mann will wissen, für welche Zeitung ich schreibe und warum ich bei „denen da“ mitlaufe. Ich versuche, ihm zu erklären, dass ich die verschiedenen Sichtweisen auf die Dinge verstehen möchte und aus diesem Grund auch gerne mit ihm sprechen möchte. Wofür oder wogegen er demonstriert, beantwortet er kurz mit: „Gegen die Nazis.“ Er ergänzt, dass für ihn Anhänger der AfD mit Nazis gleichzusetzen sind. Die Veranstalter sollten ihnen untersagen, an den Spaziergängen teilzunehmen. Die Antwort, ob das juristisch möglich wäre, bleibt er, der sich als Jurist vorgestellt hat, schuldig. Er sei nicht kategorisch gegen die Spaziergänger, nur eben gegen die Nazis unter ihnen. Er hat keine Zeit mehr. Seine Mitstreiter und er müssen weiter, um sich an einem Ort mit ihren Parolen zu positionieren.
Transparenter und geimpft
Ich schließe mich wieder dem Zug an. Neben mir geht ein junger Mann. Der studierte Naturwissenschaftler würde sich eine transparentere und offenere Kommunikation der Politik wünschen. Darum spaziert er nun zum zweiten Mal mit. Er kritisiert den Veranstalter, weil dieser zu Beginn die Ukraine-Krise und steigende Energiekosten angesprochen hat. Er möchte sich nicht für diese Themen instrumentalisieren lassen.
Wieder am Dom angekommen, ist die Veranstaltung zu Ende. Ein Schild mit der Aufschrift „2020 Heldin – 2022 Aussortiert“ ist an ein Auto gelehnt, davor steht ein junges Paar. Er ist im Handwerk tätig. Ende des vergangenen Jahres hat er sich impfen lassen. Dennoch geht er jeden Montag auf die Straße, um für eine freie Impfentscheidung – für alle – zu demonstrieren.
Lesen Sie mehr: