Interview

„Es geht um die eigene Existenz“

Die Landwirtschaft in den Niederlanden steht vor einem Richtungswechsel. Für 30 % der Viehbetriebe könnte dies das Aus bedeuten. Was das mit den Bauern macht, erklärt ein Milcherzeuger im Interview.

Zur Person

Kees de Vries wurde 1955 als Landwirtssohn in den Niederlanden geboren. Mit seiner Ehefrau Ella hat er sechs Kinder und neun Enkelkinder. 1992 wanderte de Vries mit fünf Geschwistern samt Familienangehörigen nach Deutschland aus. Seitdem sind sie in Deetz, Sachsen-Anhalt, wohnhaft. Hier bewirtschaftet de Vries mit seinem Sohn und Schwager einen Milchviehbetrieb. Politisch engagiert er sich bei der CDU und war von 2013 bis 2021 Mitglied des Bundestages in Berlin. Zudem ist er aktiv im Bauernverband und Kirchenvorstand sowie Vorstandsmitglied im Naturpark Fläming.

Herr de Vries, Sie sind Niederländer, leben allerdings seit 30 Jahren in Sachsen-Anhalt. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie über die Geschehnisse in Ihrer ehemaligen Heimat lesen?

Kees de Vries: Ich denke jeder, der sich damit befasst, hätte erwarten können, dass es so nicht weitergehen kann. Ich bin mir jedoch bewusst, dass mein Denken nicht allein durch meinen landwirtschaftlichen Hintergrund, sondern auch durch acht Jahre Berufspolitik geprägt ist.

Die Regierung in Den Haag plant Maßnahmen, die zu einer Reduktion der Viehbetriebe um 30 % führen könnten. Einige behaupten, es würde einer Enteignung gleichen. Stimmen Sie dieser Aussage zu?

Kees de Vries: Nein. Es wird inzwischen viel behauptet. Allerdings hören sowieso Betriebe auf, allein wegen fehlender Hofnachfolge. Zudem stellt die niederländische Regierung viel Geld zur Verfügung, um die Maßnahmen umzusetzen, und sucht nach Wegen, die durch Brüssel vorgegebenen Ziele zu erreichen. Dabei sollte jeder Landwirt realisieren, dass das Ziel „Emissionsabbau“ nicht mehr verhandelbar ist. Wer das nicht einsieht und den bestmöglichen Kompromiss dauerhaft verweigert, sollte sich nicht wundern, wenn der Staat gezwungen wird, zu handeln.

Mit der Phosphat-Regelung hat es vor einigen Jahren begonnen, nun geht es um die Stickstoffminderung. Hätte schon eher gehandelt werden müssen?

Kees de Vries: Definitiv! Der EU-Beschluss, der letztendlich zu diesen Problemen führte, stammt aus den frühen 1990er-Jahren. Genau wie in Deutschland wurden immer wieder Regelungen zum Abbau von Emissionen umgangen. Auch ich habe als Funktionär im Bauernverband damals stolz verkündet, dass wir wieder Wege gefunden haben, wie wir um Aufforderungen aus Brüssel drum he­rumkommen. Im Nachhinein das Dümmste, was wir machen konnten.

Sind die Maßnahmen aus dem Kabinett rund um Ministerpräsident Mark Rutte Ihrer Meinung nach vertretbar?

Kees de Vries: Im Großen und Ganzen ja. Eigentlich ist es doch ganz einfach: Wenn in den Niederlanden ein Viehbestand von etwa 3,5 bis 4 Großvieheinheiten (GVE) auf 1 Hektar (ha) gehalten werden – das trifft übrigens für viele Teile Westeuropas zu – und bei uns in Sachsen-Anhalt lediglich 0,4 GVE je ha, dann ist davon auszugehen, dass im Westen der Boden belastet ist. Hier steht zu viel organischer Dünger zur Verfügung. Im anderen Extrem geht Bodenqualität verloren, weil hier schlichtweg organischer Dünger fehlt. Es entsteht ein Ungleichgewicht. Eine immer mehr in der Kritik stehende Begleiterscheinung ist der Transport von Gülle und Mist.

Bilder der Reaktionen der niederländischen Landwirte auf die Emissionsziele im Sommer gingen um die ganze Welt. Stellenweise kam es zu Eskalationen. Können Sie den Frust Ihrer Berufskollegen in der ehemaligen Heimat nachvollziehen?

Kees de Vries: Selbstverständlich. Es fehlt an Klarheit. Die mediale Berichterstattung ist nicht immer ­objektiv. So entsteht Angst, die Emotionen ­kochen hoch. Alle sachlichen Argumente interessieren Betroffene in solchen Momenten weniger. Denn es geht um die eigene Existenz.

Deutsche Landwirte zeigen sich gegenüber ihrem Nachbarland solidarisch. Auch sie protestierten. Die Befürchtung liegt nahe, dass uns hier zukünftig Ähnliches blüht. Wie schätzen Sie das ein?

Kees de Vries:Eine ähnliche Situation hatten wir hierzulande 2020. Ich erinnere mich noch gut an Demonstrationen in Berlin. Die Forderungen aus Brüssel führten in Deutschland zu den roten Gebieten. Das ist für einen Landwirt kein Spaß. Und ja, auch bei uns ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Allerdings sind die Probleme insgesamt nicht so dramatisch wie in den Niederlanden. Mit Sorge betrachte ich jedoch die westlichen Hochburgen der Viehhaltung.

In den sogenannten Reduktionsgebieten soll neben der Einstellung der Produktion auch eine Umsiedlung sowie eine nachhaltigere Bewirtschaftung als Option gelten. Die Regierung Rutte möchte den Umbau der Landwirtschaft mit mehr als 24 Mrd. € unterstützen. Ist das realistisch?

Kees de Vries: Ich denke schon. Die niederländische Regierung versteht doch die Intensität der Problematik. Am Ende haben sich die Bauern immer an die geltenden Spielregeln gehalten, während die Politik den Weg des geringsten Widerstandes einschlug. Es kann nicht sein, dass die Bauern das jetzt alleine ausbaden müssen.

Angenommen, der Zeitplan der Regierung wird eingehalten: Wie wird die Landwirtschaft 2030 in den Niederlanden aussehen?

Kees de Vries: wird die niederländische Landwirtschaft immer noch sehr innovativ, hoch effektiv, aber etwas weniger intensiv sein – damit der Boden schonender und gesünder bewirtschaftet wird. Bei 30 % Reduktion werden weiterhin mehr als 2 GVE/ha die Regel sein. Meiner Meinung nach in den Niederlanden mit guten Böden und idealem Klima ein akzeptabler Wert.

Sie bewirtschaften mit Ihrer Familie einen Milchviehbetrieb. Sind Sie angesichts der aktuellen Lage beruhigt, dass Sie sich in Deutschland und nicht in den Niederlanden befinden?

Kees de Vries: Wir halten etwa 1000 Milchkühe und bewirtschaften rund 1200 ha. Inklusive Jungtiere entspricht das 1,5 GVE je ha. Tatsächlich bin ich beruhigt, dass wir im ehemalig „Osten“ gelandet sind. Ich sage bewusst nicht Deutschland, weil bestimmte Regionen im Westen vor gleicher Problematik stehen. Dort – wie in den Niederlanden – wird so mancher junge Landwirt sich mit ähnlichen Fragen beschäftigen müssen, wie meine Geschwister und ich vor 30 Jahren: Möchte ich Landwirt sein und möglicherweise an einem Standort ansässig werden, wo es noch möglich ist, diesen Job auszuüben? Oder hänge ich zu sehr an meiner Heimat? Wenn Letzteres der Fall ist, dann muss klar sein, dass dies nur funktioniert, wenn andere Wege eingeschlagen werden. Wir haben damals unsere alte Heimat verlassen und hier inzwischen eine neue gefunden und sind dankbar, dass wir mit diesem schönen Beruf unsere Familien ernähren konnten und weiterhin können.

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