Lebendige Vergangenheit

Im Schloss Corvey nahe Höxter gibt es Führungen für Menschen, die an Demenz leiden. Wir haben uns einer solchen Gruppe angeschlossen.

Es ist Freitagnachmittag, die Herbstsonne lacht über Höxter und sorgt für etwas Ausgleich zum scharfen Westwind, der um die alten Mauern des ehemaligen Benediktinerklosters Corvey weht.

„Heute drehen wir an solchen Tagen die Heizung auf und tragen draußen winddichte Kleidung. Früher war das nicht immer so einfach“, erklärt Annette Beckert und holt eine schwarze Mönchs­kutte aus einer mitgebrachten Tragetasche. „Wer will das Gewand mal überziehen?“, fragt die Corveyer Museumspädagogin in die Runde. Die Teilnehmer der Führung, eine Gruppe aus dem niederrheinischen Hückel­hoven, schauen sich an und zögern: Dann rufen sie „Jonas! Jonas soll Mönch werden“ – der junge Mann nimmt es mit Humor und wird für die nächsten eineinhalb Stunden zu „Bruder Jonas“.

Damit ist das Eis gebrochen. Die ungewöhnliche Führung durch Corvey kann beginnen. „Ich kann ja mit einer solchen Gruppe keine konventionelle Führung machen, bei der die Wissensvermittlung im Vordergrund steht“, erklärt Annette Beckert. Davon hätten die Menschen zu wenig: „Es gilt immer abzuwägen, was die Teilnehmer können und wollen.“

Selbst innerhalb der Gruppe sind die Interessen unterschiedlich: Manche der an Demenz erkrankten Bewohner des evangelischen Altenzentrums Hückel­hoven genießen einfach die vielen Eindrücke des Weltkulturerbes, andere versuchen, einen der rund 300 in Corvey verborgenen Engel zu entdecken. Wieder andere diskutieren mit der Museumsführerin über den Werdegang des ehemaligen Klosters und heutigen Schlosses Corvey bis zur Anerkennung als Weltkulturerbe oder über Kirchen­fragen: „Das mit dem Zölibat ist ja schon eine knifflige Sache ...“

Die meisten aus der Hückelhovener Demenzgruppe, mit der Iris Nitsche und ihre Mitarbeiter Corvey besuchen, sitzen im Rollstuhl. Damit kommen sie in der ehemaligen Abteikirche des Klosters mit dem berühmten karolingischen Westwerk gut zurecht und können dort auch die reiche Innenausstattung aus der Zeit des Barock ausgiebig bewundern. Als Pädagogin Beckert dann jedoch in den weltlichen Teil Corveys mit dem Schloss und Museum wechselt, zeigt sich, dass eine solche Führung gut geplant und durchdacht sein will: Die Gruppe soll die fürstlichen Gemächer erleben.

Dafür müssen die Rollstuhlfahrer aber in die oberen Etagen des Schlosses gelangen. Es gibt in Corvey zwar einen speziellen Treppenlift für Rollstühle, aber bis damit zehn oder mehr Personen nach oben befördert sind, vergeht einige Zeit. Deshalb hat Annette Beckert vorab ihre Technikkollegen informiert, um allzu lange Wartezeiten zu vermeiden. Außerdem nutzt sie die Zeit, um mit den Senioren und ihren Betreuern weiter über Corvey und seine lebendige Geschichte zu sprechen.

Als Iris Nitsche mit der Gruppe dann die historischen Wohn- und Schlafräume besucht, zeigt sich, wie hellwach die Menschen mit Demenz die Führung erleben: „Wie reinigen Sie denn eigentlich die prachtvollen Kristallglas-Kronleuchter?“, will jemand wissen. „Mit ganz viel Geduld“, antwortet Annette Beckert und beschreibt damit gleichzeitig die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Krankenbetreuung. Heinz Georg Waldeyer