Dörfer: Totgesagte leben länger

Seit mittlerweile zwei Generationen verfolgt ein in Deutschland einzigartiges Forschungsprojekt den ländlichen Wandel: Alle 20 Jahre nehmen Wissenschaftler dieselben 14 Dörfer unter die Lupe. Kürzlich war es wieder so weit.

Die Ergebnisse wurden heute in Berlin vorgestellt.

Dörfer haben keine Zukunft. So behaupten viele "Beobachter" und verweisen auf mangelhafte Infrastruktur, das Abwandern der jungen Leute, den Strukturwandel in der Landwirtschaft, das Verschwinden von "Tante Emma", Bäcker, Post und Landarzt, das angeblich mangelnde Engagement der Bevölkerung in Kirchen, Parteien, Verbänden und Vereinen.

Doch die Zukunft auf dem Land ist weder schwarz noch weiß, die Entwicklung weitaus vielschichtiger und deutlich stabiler als allgemein wahrgenommen. Das ist eines der Ergebnisse einer Langzeit-Untersuchung, deren jüngste Ergebnisse heute in Berlin vorgestellt wurden. Die Untersuchung läuft seit mittlerweile mehr als 60 Jahren (!) und befasst sich alle 20 Jahre mit dem Wandel in denselben zehn Dörfer in Westdeutschland sowie – seit der Wiedervereinigung – in vier Dörfern in Ostdeutschland.

Dörfer unter Langzeitbeobachtung

In Westfalen steht die Gemeinde Westrup bei Rahden, Kreis Minden-Lübbecke unter Langzeitbeobachtung. Überdies werden die Ortschaften Bockholte (Hümmling, Landkreis Emsland), Spessart in der östlichen Eifel, Freienseen (Landkreis Gießen) sowie Groß Schneen und Elliehausen, beide bei Göttingen, unter die Lupe genommen. Die weiteren untersuchten Dörfer liegen in Südbaden, Ostsachsen, Brandenburg, Vorpommern, Franken und dem südöstlichen Bayern.

Das Thünen-Institut für Ländliche Räume in Braunschweig hat die aktuelle Verbundstudie koordiniert, an der sich sieben Forschungseinrichtungen beteiligt haben. Auftraggeber ist das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft.

Die Forscher haben eine Vielzahl unterschiedlicher Daten zusammengetragen und ausgewertet. Neben Statistiken beispielsweise zu Einwohnerzahlen und -entwicklung, Infrastruktur und Wirtschaftslage wurden rund 3000 Personen zu den Lebensverhältnisse ihres Dorfes befragt. Überdies gaben Vertreter aus Verwaltung, Wirtschaft und Vereinen Auskunft.

Für das Stichjahr 2012 befassten sich einzelne Teilprojekte mit diesen Themen:

  • Anforderungen an die Landwirtschaft,
  • Dörfer als Wohnstandorte,
  • Ländliche Kindheit im Wandel,
  • Neue Medien und dörflicher Wandel,
  • Ländliche Arbeitsmärkte,
  • Handlungsspielräume von Orten und
  • Alltagsbewältigungsstrategien

Einige der Kernergebnisse aus der aktuellen Studie:

Bevölkerungsentwicklung: "Die Entwicklung der Bevölkerung in den westdeutschen Untersuchungsorten nahm vielfach keinen geradlinigen Verlauf, sondern wurde oft von einem Wechsel von Bevölkerungswachstum und -rückgang geprägt. Alle Untersuchungsorte weisen sowohl Zu- als auch Wegzüge von Einwohnern auf. Der Zuzug in Untersuchungsorte ist abhängig von Arbeitsmöglichkeiten in der Region, von der Erreichbarkeit der Zentren, den natürlichen und infrastrukturellen Wohnortqualitäten, den ökonomischen Bedingungen und der Wettbewerbssituation gegenüber anderen Orten."

Abwanderung: "Eine oft vermutete generelle Abwanderungsbereitschaft eines Großteils der erwachsenen Wohnbevölkerung und mehr noch von Jugendlichen ist in den Untersuchungsorten nicht nachweisbar."

Arbeitsplätze: "Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe und in Dienstleistungsbereichen sind das wirtschaftliche Rückgrat der ländlichen Räume. Die Bandbreite der Unternehmen reicht von international tätigen Großunternehmen über Handwerksbetriebe bis zu neuen Formen des vernetzten, digitalisierten Handels in Kleinstunternehmen."

Mobilität: "80 % der befragten Pendler erreichen ihre Arbeitsplätze in weniger als 30 Minuten Fahrzeit. Fahrzeiten von über einer Stunde treten nur vereinzelt auf. Eine Ausnahme bilden die Einwohner der stärker auf Berlin ausgerichteten Ortsteile Badingen, Burgwall, Marienthal, Mildenberg, Ribbeck und Zabelsdorf der Stadt Zehdenick. Dort benötigen 16 % der Pendler zwischen 60 und 90 Minuten, um ihren Arbeitsplatz zu erreichen."

Landwirtschaft: "Die entstandenen größeren landwirtschaftlichen Betriebe, insbesondere mit Viehhaltung, sind zum großen Teil aus den Ortslagen ausgesiedelt. Ihre wirtschaftlichen Aktivitäten reichen oft weit über den Rahmen des Dorfes hinaus. Insbesondere ostdeutsche landwirtschaftliche Großbetriebe stellen in den Dörfern ein nicht unerhebliches örtliches wirtschaftliches Potenzial dar."

Umwelt und Natur: "Unabhängig von der Anzahl der Betriebe und der Struktur beeinflusst die Landwirtschaft durch die an den betrieblichen Erfordernissen orientierte landwirtschaftliche Flächenbewirtschaftung das landschaftliche Umfeld der Orte. Damit sind potenzielle Konfliktfelder benannt: Die Wohnbevölkerung der Orte hat ein sehr emotionales Verhältnis zum Landschaftserleben entwickelt und lehnt mehrheitlich Veränderungen der Landschaft ab."

Engagement: "Wohnen in Dörfern führt, wie schon die Untersuchung 1952 nachdrücklich hervorhob, nicht automatisch zu gemeinschaftlichem Engagement der Menschen. Vielmehr ist solches Engagement auch zur Gestaltung des eigenen Lebensumfeldes eine Entscheidung jedes Einzelnen. Dort, wo sich Einwohner zur aktiven Gestaltung ihres örtlichen Lebensumfeldes engagieren, haben sie dieses in eindrucksvoller Weise mitgestaltet."

Leben auf dem Dorf: "Die befragten Einwohner leben in ihrer weit überwiegenden Mehrheit gerne in ihren Wohnorten. Die Zufriedenheit mit dem Leben in den Untersuchungsdörfern schließt auch die der Kinder und Jugendlichen mit ihren aktuellen Lebensbedingungen ein. Zu dem positiven Tenor trägt auch die seit längerem anhaltende gute wirtschaftliche Konjunktur bei. Diese hat auch dazu geführt, dass Arbeitslosigkeit und Arbeitsplatzunsicherheit – in deutlichem Kontrast zur Untersuchung 1993 – aus der örtlichen Wahrnehmung weitgehend verschwunden sind." Gisbert Strotdrees